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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde
Autoren: Oliver Adam
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Stuhl und reichte mir ein Glas Wasser.
    Den Leichnam zeigte man mir nicht. Sie hatten genug Beweise. Ich bat sie, so lang wie möglich zu warten, bevor sie an die Presse gingen, damit ich es den Kindern beibringen konnte. Die beiden anderen Frauen mussten noch identifiziert werden, sie konnten mir aber nichts garantieren, ein paar Tage höchstens. Ich gab ihnen zu verstehen, sie könnten mir den Buckel runterrutschen, unterschrieb die Papiere und verpisste mich. Draußen war Nachmittag, aber ich hatte das Gefühl, in eine tiefe Nacht einzudringen. Ich habe keine Ahnung mehr, was dann geschah, ich irrte durch Straßen ohne Anfang und Ende, ich hätte gewünscht, eine führte zum Meer. Um mich herum ragte alles senkrecht auf, die Wohnblöcke kratzten am grauen Filz des Himmels, Autos fuhren weiß Gott wohin, und all die Leute, wer waren sie wohin liefen sie, es war mir schleierhaft. Ich wusste auch nicht mehr, wo ich mein Auto gelassen hatte. Es war grauenhaft kalt, an den Seinekais legte ich mich hin und übergab mich wieder. Ich glaube, ich habe ein wenig geschlafen. Ich kann mich kaum erinnern. Oder nur an das Brummen in meinem Schädel, an die Stiche in meinem Bauch und an meine Kehle, die sich weigerte, den Sauerstoff rein- und rauszulassen. Ich weiß nicht mehr, wo oder mit wem ich an diesem Abend geschlafen habe. Ich weiß gar nichts mehr. Ich bin in einem Bett aufgewacht, ich weiß nicht, was ich da tat. Das Hotel war dreckig, die Tapete hing in Fetzen von den Wänden. Als ich aufstand, sah ich unter dem Bett eine Horde Kakerlaken auseinanderstieben. Aus den schmutzigen Hähnen kam gelbliches Wasser, ich ließ es über mein Gesicht laufen, dann über meinen Körper, blieb lang unter dem eisigen Strahl. Danach ging ich in den grauen Morgen hinaus und suchte ganz Paris nach meinem Auto ab. Es stand da, wo ich es geparkt hatte, ein Strafzettel klemmte an der Windschutzscheibe. Ein feiner Regen schien vom Asphalt aufzusteigen.

Auf der anderen Seite der Straße hatte das Meer den Sand auf einen schmalen Halbmond reduziert, die Segelboote schwankten, man fürchtete immer, sie könnten aneinanderstoßen, aber das würde nie geschehen. Die Altstadt versank in der Ferne, die Fähre schien doppelt so groß zu sein wie sie. Im Haus meines Bruders war niemand. Sie waren ausgegangen, und das war besser so, ich hatte gebetet, sie sollten nicht da sein, vier Stunden war ich gefahren, benommen vor Müdigkeit und Kummer, in meinem Kopf hatte sich kein Gedanke formen können, ich stand unter Schock, seine dumpfe Wucht walzte mich erbarmungslos nieder. Ich stellte mir vor, wie die Kinder mit Alex und Nadine über den Jahrmarkt gingen, und das tat mir gut. Am Strand liefen sie hinter einem Ball her. Oder schoben ihren Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarkts, morgen war Weihnachten, sie würden ihn mit Süßigkeiten und getrockneten Früchten, Marzipan und Kastanien füllen. Ich kroch aus dem Auto und stieg über das Törchen. Die Fenster waren mit weißer Farbe bedeckt, Clément hatte einen Weihnachtsmann, einen Schlitten und Berge gemalt, Manon Tannen und schleifengeschmückte Päckchen. Ich ging ums Haus herum, von dem kleinen Garten aus hörte man wieder die Boote, auf den Kais verbrachten Männer ihre Samstage damit, sie zu schrubben zu polieren zu streichen, sie bastelten an ihren Motoren, bauten neues Zubehör ein, man fragte sich, ob sie nicht mehr Zeit an Land verbrachten als mit ihren Booten auf dem Meer. Alex’ Kajak lag im Gras, das vom morgendlichen Frost leicht bereift war. Rechts hatte der Wind den Efeu von der Steinmauer gelöst und winzige Stückchen Mörtel mit abgerissen. Ich suchte im tadellos aufgeräumten Schuppen, Schraubenzieher und Schlüssel nach Größe geordnet, funkelnde Bohrmaschine in ihrem verschlossenen Koffer, Gartenscheren Heckenscheren Hippen an der Wand aufgehängt. Der Dachträger stand auf dem Boden, man musste die Fahrräder beiseitestellen, um dranzukommen, ich zerrte ihn zum Auto und montierte ihn. Alle drei Sekunden drehte ich mich um wie ein Kind, das etwas anstellt und Angst hat, erwischt zu werden. Dann zog ich den Kajak aus dem Garten auf den Gehweg und wuchtete ihn auf den Dachträger, er wog kaum 30 Kilo, aber meine Arme brannten, ich ließ ihn fallen, und das orangefarbene Plastiktrumm krachte auf den Asphalt. Nach zwei weiteren Anläufen schaffte ich es schließlich. Ich fuhr zur Halbinsel. Es war kalt und trocken, richtiges Winterwetter, der Himmel blitzblank und klar,
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