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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser
Autoren: Marie-Aude Murail
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Kapitel 1 In dem Cécile Barrois größte Schwierigkeiten hat, sich Männer in Schlafanzügen vorzustellen
    Gleich in ihrer ersten Woche in der ersten Klasse der Grundschule hatte Cécile Barrois ihr Lieblingsspiel für die nächsten Jahre entdeckt. Sie setzte ihre Stofftiere ordentlich vor sich auf den Teppich und erteilte ihnen Unterricht, wobei alle, die nicht brav waren, in die Ecke gestellt wurden (vor allem der Esel Bommel, der nie zuhören wollte).
    Zu Beginn der dritten Klasse hatte Cécile eine plötzliche Erkenntnis: Wenn sie immer fleißig war, könnte sie – in ferner Zukunft – die Stelle ihrer Grundschullehrerin Madame Varenne übernehmen. Ihr Papa versprach ihr: Brave kleine Mädchen werden eines Tages Grundschullehrerinnen. Von da an fand sich auf Céciles Zeugnissen nur noch die immer gleiche Beurteilung:
Cécile ist eine gewissenhafte und fleißige Schülerin.
Ihr Abitur legte sie mit Auszeichnung ab, sie schaffte die Aufnahmeprüfung für die Pädagogische Hochschule und wurde mit 22  Jahren zur Grundschullehrerin ernannt. Ihr geradliniger Weg hatte nur einen einzigen Bruch erlebt: Am Ende der dritten Klasse war ihr Papa gestorben.
     
    »Ich weiß gar nicht, wo diese Louis-Guilloux-Grundschule sein soll«, sagte Madame Barrois an jenem Morgen zu ihrer Tochter.
    »In der Rue Paul-Bert«, antwortete Cécile.
    »Findest du da hin?«
    »Ja.«
    »Soll ich dich begleiten?«
    »Nein.«
    Cécile trat näher an den großen Spiegel im Wohnzimmer heran. Wurde sie kurzsichtig? Selbst wenn man sie betrachtete, sah man sie nicht. Blasse Lippen, glanzlos braune Augen – sie wirkte unscheinbar. Sie lächelte sich angestrengt zu.
    »Gut, ich gehe.«
    »Lass dich nicht einschüchtern. Ein Schuldirektor ist nur ein Mann. Dein Papa würde sagen:
Stell ihn dir im Schlafanzug vor.
«
    Cécile runzelte überrascht die Stirn angesichts dieses posthumen Ratschlags.
    »Ich komm noch zu spät, Mama.«
    Sie umarmte sie rasch, dann rannte sie los auf die Straße. Nach ein paar Schritten merkte sie, dass sie weiche Knie hatte. Sie versuchte, sich gut zuzureden: Sie hatte vor kurzem von ihrer Ernennung in einer Schule ganz in der Nähe von zu Hause erfahren; sie wohnte in der Rue de la Solidarité 2 und hatte nur eine Viertelstunde Fußweg zur Rue Paul-Bert. Das war wirklich ein Glücksfall. Monsieur Montoriol, der Direktor, hatte sie zu einem Treffen eingeladen, um sie vor dem Schulanfang kennenzulernen. Sehr liebenswürdig von ihm. Am Telefon hatte seine tiefe Stimme autoritär und heiter zugleich gewirkt. Cécile lief es kalt den Rücken hinunter. Manchmal schien es ihr, als versetzte sie jeder Mensch, der mehr als zehn Jahre älter war, in Furcht und Schrecken.
    Sie erreichte das Ende der Rue Paul-Bert, ohne eine Schule entdeckt zu haben. Sie bezwang ihre Panik und ging den Weg in umgekehrter Richtung. Sie hatte die blau-weiß-rote Nationalflagge über einem großen Eingangstor erwartet, über dem die Devise
Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit
eingraviert wäre. Aber nein. Da war es, fast unsichtbar. Ein zweiflügeliges Tor, von dem die grüne Farbe abblätterte, und daneben ein unauffälliges Schild:
    Staatliche Grundschule
    Louis Guilloux
    Französischer Schriftsteller ( 1899 – 1980 )
    Cécile drückte auf den kleinen Knopf mit der Aufschrift
Schulleitung
, und die Tür öffnete sich. Ein Paar hinter ihr nutzte die Gelegenheit und ging ebenfalls hinein. Der Mann mit Krawatte und hochgekrempelten Hemdsärmeln, die Frau in einem fuchsienroten Kostüm.
    »Du wirst sehen«, sagte der Mann. »Es ist unglaublich.«
    Cécile lief durch einen Gang und blieb verblüfft stehen. Vor ihr befand sich, von den Passanten draußen unvermutet, ein weitläufiger Hof, auf dem Linden standen. Man fühlte sich wie auf einem Dorfplatz, mit sonnenbeschienenen Bänken und Stockrosen vor den Mauern. Ein auf den Boden gemaltes Himmel-und-Hölle-Spiel wartete auf den Schulanfang. Das Trillern eines Vogels setzte sich mühelos gegen die Geräusche der Stadt durch. Trotz ihrer Aufregung seufzte Cécile vor Wohlbehagen auf. Es war eine kleine, von der Welt unbeachtete Schule unter einem blauen Himmelsdach, es war ihre erste Schule, und vor Ergriffenheit stiegen ihr Tränen in die Augen.
    »Na?«, sagte der Mann hinter ihr. »Würdest du von der Straße aus nie denken, was? Mitten in der Innenstadt mit dem Rathaus, den Schulen und Geschäften. Da kannste dir die Eier mit vergolden!«
    Cécile war von den groben Worten so entsetzt, dass sie
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