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Die verborgene Grotte

Die verborgene Grotte

Titel: Die verborgene Grotte
Autoren: dtv
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K apitel 1

    Immer wenn Karl an der Fabrikantenvilla vorbeikam, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Die Fenster des alten Hauses waren so dunkel und unheimlich. Sie sahen aus wie Augen. Leere, böse Augen, die Krabbsjögrund von den Klippen herab bewachten.
    Solange Karl lebte und vermutlich noch viel länger, hatte das Haus leer gestanden, aber trotzdem munkelte man, dass bisweilen nachts ein Licht durch die alte Villa irrte. Nun war heute zwar keine dunkle, stürmische Herbstnacht, sondern ein ganz gewöhnlicher Abend Ende April, aber Karl lief trotzdem so schnell wie möglich an dem Haus vorbei, den Blick eisern nach vorne gerichtet.
    Die Fabrikantenvilla war hoch über dem Hafen von Krabbsjögrund auf einer Klippe errichtet worden, die Witwenfels genannt wurde. Sie stand so dicht an der Felskante, dass es fast soaussah, als wäre die Rückseite des Hauses selbst ein Teil der Klippe. Die Vorderseite zeigte zum Pirväg.
    Karl hatte den ganzen Nachmittag bei Sebastian Videospiele gespielt. Erst als es dämmrig wurde, war ihm wieder eingefallen, dass er ja versprochen hatte, zum Abendessen zu Hause zu sein. Noch ein Grund, sich zu beeilen.
     
    Vor dem Zaun der Fabrikantenvilla standen zwei Männer und redeten miteinander. Der eine hielt ein Klemmbrett in der Hand. Karl kannte ihn. Es war der Makler Ture Öberg, der Karls Großvater   – nur halb aus Spaß   – immerzu damit in den Ohren lag, dass es langsam an der Zeit war, das Haus zu verkaufen und ins Altenheim zu ziehen. Den anderen Mann hatte Karl noch nie gesehen. Er hatte graue Haare und trug einen dunklen Anzug mit Krawatte. Solche Kleidung sieht man nicht oft in Krabbsjögrund, dachte Karl. Hier trug höchstens Doktor Ekwall   … Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als ausgerechnet Doktor Ekwall zielstrebig den Pirväg entlanghastete, wobei er den Mann am Zaun nicht aus den Augen ließ.
    Als Ekwall die beiden erreichte, hatte der Anzugtyp gerade auf dem Klemmbrett ein Papierunterschrieben und Öberg die Hand geschüttelt. Nun waren beide im Begriff zu gehen.
    »Ture!«, rief Doktor Ekwall und rang sich ein Lächeln ab. »Wie gut, dass ich dich treffe! Was sind das für Gerüchte, die mir über die Fabrikantenvilla zu Ohren gekommen sind?«
    Für gewöhnlich war Karl nur Sommergast in Krabbsjögrund. Eigentlich wohnte er mit seiner Mutter in der Stadt, aber nun war er schon seit dem letzten Herbst hier bei seinem Großvater, weil seine Mutter, die für eine Umweltorganisation arbeitete, immer wieder wochenlang mit einem Forschungsschiff auf See war. Ein echter Einheimischer war Karl also nicht. Aber eines hatte er inzwischen gelernt: In einer Kleinstadt war Tratsch Gold wert. Wenn also jemand, besonders einer wie Doktor Ekwall, anfing, über Gerüchte zu reden, spitzte man besser die Ohren. Daher blieb Karl stehen, beugte sich nach unten und gab vor, seine Schnürsenkel zu binden.
    »Du weißt ja, dass wir vom Heimatverein bereit sind, gut für das Haus zu bezahlen.«
    Ture Öberg lachte unsicher.
    »Ich fürchte, da kommst du ein bisschen zu spät.«
    »Zu spät? W-wie kann es zu spät sein?«
    Karl hatte Doktor Ekwall noch nie so verstörtgesehen. Er machte tatsächlich den Eindruck, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.
    »Wir versuchen doch schon seit Jahren, das Haus zu kaufen!«
    Der Makler wand sich wie ein Wurm.
    »Ja, aber ich bin ja nicht derjenige, der   … Fabrikant Pilkins’ Nachfahren hatten längst einen neuen Interessenten aufgetan, als ich ins Spiel kam   …«
    Langsam gewann Doktor Ekwall die Fassung zurück und wirkte wieder so kalt und berechnend wie immer. Er nickte in Richtung des Anzugträgers.
    »Und Sie sind also Herr   …?«
    Aber der ging nicht so leicht in die Falle.
    »Nein«, entgegnete er. »Ich vertrete den Käufer nur juristisch.«
    »Ja, sie möchte gerne anonym bleiben, bis sie hierher zieht«, sagte Öberg entschuldigend.
    »Sie?«, fragte Doktor Ekwall. »Das heißt
, sie
ist also nicht von hier   …«
    Der Anzugträger warf dem Makler einen frostigen Blick zu, der daraufhin eilig sein Klemmbrett an die Brust drückte, um den Namen vor Ekwalls neugierigen Blicken zu schützen.
    »Ich hätte wirklich mehr von dir erwartet,Ture«, sagte Doktor Ekwall scharf. »Loyalität zum Beispiel. Heimatsinn. Nun gut, jetzt weiß ich jedenfalls Bescheid.«
    Er schnalzte verächtlich und ging mit langen Schritten davon. Karl konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Doktor Ekwall war ein
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