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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut
Autoren: Margaret Atwood
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1.
Toby. Jahr Fünfundzwanzig, das Jahr der Flut
     
    Früh am Morgen klettert Toby aufs Dach, um sich den Sonnenaufgang anzusehen. Sie stützt sich auf den Stiel eines Wischmopps: Der Fahrstuhl hat schon seit längerem den Geist aufgegeben, die Hintertreppe ist glatt vor Nässe, und wenn sie ausrutscht und hinfällt, ist niemand da, der ihr wieder aufhilft.
    Als die erste Hitze aufkommt, steigt Nebel aus dem breiten Baumstreifen hoch, der zwischen ihr und der verfallenen Stadt liegt. Die Luft riecht leicht verbrannt, nach Karamell und Tee und ranzigem Grill und brennender Müllkippe nach einem Regenguss, ein Asche-und Ölgeruch. Die verlassenen Hochhäuser in der Ferne sind wie die Korallen eines uralten Riffs – ausgebleicht und farblos, ohne Leben.
    Aber es gibt noch Leben. Vögel zwitschern; es müssen Spatzen sein. Ihre kleinen Stimmen sind klar und scharf, Nägel auf Glas: es gibt keinen Autolärm mehr, um sie zu übertönen. Fällt ihnen diese Stille auf, das Fehlen von Motoren? Wenn ja, sind sie glücklicher? Toby weiß es nicht. Anders als manche anderen Gärtner − die verschrobeneren oder womöglich überdosierten – ist sie nie der Illusion aufgesessen, mit den Vögeln sprechen zu können.
    Die Sonne erhellt den Osten, taucht den blaugrauen Nebel des fernen Meeres in rötliches Licht. Die Geier, die auf den Pfählen der Wasserkraftanlage brüten, breiten ihre Flügel zum Trocknen aus, sie klappen auf wie schwarze Regenschirme. Erst hebt sich einer, dann ein anderer mit der Thermik spiralförmig in die Höhe. Wenn sie plötzlich hinabstürzen, heißt das, sie haben Aas entdeckt.
    Die Geier sind unsere Freunde
, lehrten damals die Gärtner.
Sie reinigen

die Erde. Sie sind Gottes notwendige dunkle Engel des fleischlichen Verfalls. Stellt euch vor, wie schrecklich es wäre, wenn es den Tod nicht gäbe!
    Glaube ich immer noch daran?, fragt sich Toby.
    Aus der Nähe sieht alles anders aus.
    *
    Auf dem Dach stehen Blumenkübel mit wildwuchernden Zierpflanzen; auch ein paar künstliche Holzbänke. Es gab einmal ein Sonnendach, unter dem man Cocktails trank, aber das hat der Wind weggeweht. Toby setzt sich auf eine der Bänke, um einen Blick über das Gelände zu werfen. Sie hebt ihr Fernglas, sichtet das Gelände von links nach rechts. Die Lumirosen, die die Auffahrt säumen, sind mittlerweile ausgefranst wie alte Haarbürsten, das lila Leuchten verblasst immer mehr in der zunehmenden Helligkeit. Der Westeingang, das Solargebäude in Lehmsteinoptik, die verknäulte Autoschlange vor dem Tor.
    Die Blumenbeete, erdrückt von Gänsedisteln und Kletten, umflattert von riesigen Aqua-Kudzumotten. Die Brunnen, die muschelförmigen Becken, in denen das Regenwasser steht. Der Parkplatz mit einem rosa Golfwägelchen und zwei rosa AnuYu-Spa-Kleinlieferwagen, auf jedem das Logo mit dem zwinkernden Auge. Ein vierter Kleinlieferwagen ist weiter unten in der Auffahrt frontal gegen einen Baum geknallt: Anfangs noch hing ein Arm aus dem Fenster, aber jetzt nicht mehr.
    Die breiten Rasenstücke sind überwachsen mit Unkraut. Flache ungleichmäßige Hügel sind unter Seidenpflanze, Berufskraut und Sauerampfer begraben, hier und da sieht man einen Fetzen Stoff, das Schimmern eines Knochens. Dort sind die Leute hingefallen, die gerannt oder über den Rasen getaumelt waren. Hinter einem der Blumenkübel hockend, hatte Toby vom Dach aus zugesehen, aber nicht lange. Einige dieser Leute hatten nach Hilfe geschrien, als hätten sie gewusst, dass sie da oben ist. Aber wie hätte sie ihnen schon helfen sollen?
    Eine fleckige Algendecke liegt über dem Swimmingpool. Es haben sich schon Frösche eingefunden. Die Fischreiher und Pfaureiher jagen sie im flachen Ende. Eine Zeitlang hatte Toby versucht, die kleinen Tiere, die hineingefallen und ertrunken waren, aus dem Wasser zu schöpfen. Die grün leuchtenden Kaninchen, die Ratten, die Wakunks mit dem gestreiften Schwanz und der Waschbär-Banditenmaske. Aber jetzt lässt sie sie in Ruhe. Vielleicht bringen sie ja Fische hervor, irgendwie. Wenn das Becken noch mehr zum Tümpel geworden ist.
    Spielt sie mit dem Gedanken, diese theoretischen zukünftigen Fische zu essen?
    Sicherlich noch nicht jetzt.
    Sie wendet sich dem dunklen Wald zu, der wie eine Mauer das Gelände umgibt, und den Ranken und Farnwedeln und dem dichten Unterholz, sondiert alles mit ihrem Fernglas. Wenn Gefahr kommt, dann von dort. Aber was für eine Gefahr? Sie hat keine Vorstellung davon.
    *
    Nachts sind die üblichen
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