Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tortenschlacht

Tortenschlacht

Titel: Tortenschlacht
Autoren: Oliver G Wachlin
Vom Netzwerk:
operativen Vorgänge aus 1960 und 61, klar?«
    Uns, dachte Boelter verwundert, wieso sagt der plötzlich »uns«? Wollte der Kerl damit andeuten, dass hinter ihm eine ganze Gruppe von Leuten stand, oder meinte er nur sich und ihn, den guten alten Heini Boelter?
    »Haben Sie mich verstanden, Heinrich?« Wieder spürte Boelter die schwere Hand des Fahrgastes auf der Schulter.
    »Allet paletti«, beteuerte er, »Arndt mit De Te, die Vorgänge 60, 61. Sonst noch wat?«
    »Sehen Sie zu, dass Sie mit der Akte unauffällig aus dem Gebäude kommen«, knurrte der Fahrgast und sah wieder auf die Armbanduhr. »Zeitvergleich: Es ist jetzt vierzehn Uhr zwölf. Ich treffe Sie exakt einundzwanzig Uhr dreißig an der Weltzeituhr. Da kriegen Sie die restlichen fünfzehnhundert D-Mark – und ich meine Akte. Abgemacht?«
    »Abgemacht!« Boelter reichte die Hand nach hinten, doch der Fahrgast schlug nicht ein, sondern sagte stattdessen: »An der Ecke können Sie mich rauslassen.«
    Heini Boelter stoppte das Taxi und wartete, bis sein seltsamer Fahrgast ausgestiegen war. Zu gern hätte er erfahren, was an der geforderten Akte so wichtig und warum ausgerechnet er für den Job in Frage gekommen war. Aber aus unzähligen Agentenfilmen wusste er, dass sich für einen echten Profi derartige Fragen verbaten.
    Neben der Mauer hatte Heini Boelter die Politik am meisten gestört in der DDR : diese ewige Agitation, das Gelaber vom Sieg des Sozialismus, von dialektischen Widersprüchen und Konjunktur, Krise, Krieg – alles Quark! Er hatte damit einfach nix am Hut und wurde dennoch dauernd genervt, von der Schule bis ins hohe Alter. Selbst als harmloser Kutscher des VEB Taxi Berlin war man vor der Erziehung zum ideologisch denkenden Staatsbürger nicht sicher. Insofern geschah es den SED -Bonzen ganz recht, wenn sie nun von ihren eigenen politisch hochgejazzten Bürgern polemisch zur Strecke gebracht wurden.

    Eine Aktionskundgebung jagte die nächste – und Boelter verstand nicht recht den Sinn darin. Die Mauer war längst auf, was sollte das alles noch? Ziel erreicht, lasst doch Stasi Stasi sein, haben eh nix mehr zu melden. Stattdessen: »Bringt Kalk und Steine mit!« Ja wollten die diese armen Lausch-und-Guck-Hirnis in ihrem Bunker einmauern? Lächerlich fand Boelter das und albern. Aber so waren wohl Revolutionen; immer wieder Demonstrationen mit irgendwelchen Rednern, die kämpferisch Dinge fordern, über die vorher nie jemand nachgedacht hatte. Dann stellte sich wer an die Spitze der Bewegung, und bevor dagegen protestiert werden konnte, wurden die Guillotinen herausgeholt. Köpfe rollten – und am Ende war alles wie vorher. Nur die Machthaber hatten gewechselt, das nannte man dann Fortschritt.
    Boelter stoppte seine Taxe am Kotikow-Platz und ging den Rest zu Fuß. Wenn es zur Eskalation kam, zu Straßenkämpfen oder so, sollte sein Wolga nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Auf der Frankfurter Allee strömten die Menschen zusammen, überall bildeten sich Grüppchen. Viele hatten Transparente dabei, die »Stasi in die Produktion« forderten und mit »Lauscherlümmel – jetzt geht’s euch an die Ohren!« drohten. Irgendwo forderte eine Megafonstimme »keine Gewalt«.
    In der Rusche- und in der Normannenstraße skandierten sie schon lautstark »Stasi raus! Stasi raus!«, und erste Bierflaschen flogen gegen den riesigen Plattenbaukomplex des Ministeriums, das erst kürzlich von der Modrow-Regierung in »Amt für Nationale Sicherheit« umgetauft worden war, was nun andere Demonstranten zu »Stasi-gleich-Nasi«-Sprechchören animierte. Plötzlich war Heini Boelter mittendrin in der Revolution, im Zentrum des Aufstandes, eingeklemmt im Gerangel und Gedrängel. Von hinten wurde geschoben, von vorn gedrückt – irgendwo klirrten Fensterscheiben, und die Stimme Bärbel Bohleys – sozusagen die Mutter des friedvollen Protests – echote zwischen den Hauswänden wider und mahnte zu Ruhe und Gewaltfreiheit. Vergebens. Einmal aufgestachelt, wollte sich die Menge nicht beruhigen. Jetzt ging es den Stasileuten an den Kragen, jetzt bahnte sich jahrzehntelang aufgestauter Hass Bahn. Rache lag in der Luft.
    Willkommen im Dschungel, dachte Heini Boelter zwischen den wild gewordenen Bürgern und fühlte sich plötzlich wie Rambo bei den Vietkong. Mit seinen Ellbogen arbeitete er sich durchs Gedränge zum Hauptportal vor. Oder war das der Sturm auf die Bastille? Würde am Abend die Stasiplatte noch auf ihren Grundmauern stehen? Ja, das war wohl ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher