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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben
Autoren: K Weßling
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Prolog
    I ch bin ein menschlicher Verkehrsunfall. Irgendwann bin ich einfach stehengeblieben, und dann sind Erlebnisse wie LKW s in mich hineingefahren. Man kann sich vorstellen, dass das zu großen Problemen führt. Wenn man nicht ausweicht, geht das einfach immer weiter. Der Unfall wird immer größer, immer unübersichtlicher, und irgendwann stehst du auf der Gegenfahrbahn und fragst dich, was eigentlich zum Teufel gerade passiert ist.
    Das ist der Moment, in dem du aussteigen solltest. Nicht das Aussteigen, das in den Büchern steht, die man in Buchhandlungen grundsätzlich in der Ratgeberecke findet. Nicht diese Art Aussteigen, die etwas mit Kofferpacken und In-den-Bauch-Atmen zu tun hat.
    Dieses Aussteigen passiert einfach von allein. Erst mal merkst du überhaupt nichts. Du räumst die Wohnung auf, die Flaschen weg, und du atmest weiter ein, und du atmest weiter aus, und du isst weiter dein Essen und rufst weiter die Nummern in deinem Telefon an, und du gehst weiter nach draußen, und du gehst weiter in dein Büro und in dein Bett, wenn es Zeit dafür ist. Du bemerkst die Schäden, aber weil alles andere noch steht, weil die Autos noch fahren, die Busse noch für dich halten, die Verkäuferin noch mit dir spricht, weil du noch ausscheidest und schwitzt und dir die Schuhe zubinden kannst und weil du keine einzige blutende Wunde zu versorgen hast und weil kein einziger Schlauch in dir steckt, denkst du, dass du noch ein bisschen weitermachen kannst.
    Du bewegst dich langsam, aber du bewegst dich, und dass sich das nicht ändert, beruhigt dich. Du putzt dir die Zähne, und du duschst deinen müden Körper, und du bekommst manchmal Kopfschmerzen, aber alles bewegt sich, alles geht doch weiter, der Fernseher läuft doch noch, so schlimm kann es doch nicht gewesen sein. Unmerklich wirst du Woche für Woche ein bisschen mehr zu Zement, ein bisschen mehr zu Beton, ein bisschen mehr zu dem Schatten hinter dir. Aber du gehst weiter, denn das Gehen fühlt sich gut an, im Gehen fühlst du dich sicher, im Gehen hörst du deinen Atem und grüßt auch manchmal irgendwen, denn du kennst ja Menschen, du hast ja Freunde, du hast ja wen. Manchmal merkst du, dass etwas passiert ist, dass dir etwas zugestoßen ist, dass etwas wehtut, dass sich etwas verschoben hat, dass du nicht mehr so bist, wie du vorher mal warst– aber weil du nie aufgeschrieben hast, wer das jetzt noch mal genau gewesen sein soll, kann dir keiner beweisen, dass das stimmt. Also stimmt es vielleicht auch einfach nicht.
    Du trinkst. Du trinkst Wein, weil der so gut zum Essen schmeckt, und das erste Glas zum Kochen und das zweite Glas auf das Essen und das dritte auch und das vierte auf die Liebe und das fünfte auf das Leben und das sechste auf das sechste und das siebte auf die Flasche Wein.
    Du schläfst jetzt immer schlechter, und du träumst von diesem Unfall, der natürlich kein Verkehrsunfall war, sondern nur ein unscheinbarer, winziger Moment in deinem Leben, der gar nichts hätte bedeuten müssen. Vielleicht war es einfach nur der Moment, in dem du gemerkt hast, dass es jetzt schon sieben Jahre sind. Oder dieser Moment, in dem der Sarg in dem Loch liegt und du die Erde darauf geschmissen hast. Oder dieser Moment, als sie dir gesagt haben, dass es vorbei ist. Oder dieser Moment, als du es nicht geschafft hast. Oder dieser Moment, als du gefallen bist. Oder dieser eine Traum. Oder dieser andere Traum. Oder dieser eine Mann. Oder dieser eine Wunsch. Dieser eine, verfluchte Wunsch. Vielleicht war es nur einer dieser Momente. Vielleicht war es auch keiner. Manchmal reicht nur ein winziger Augenblick aus, um zu begreifen, dass nichts jemals wieder so sein wird, wie es war.
    Und eines Morgens stehst du dann vor dem Spiegel und siehst dich an und siehst das fahle Grau in deinen roten Augen, und du bleibst vor dem Spiegel stehen, du bleibst einfach stehen und bewegst dich keinen Zentimeter mehr weiter.
    Und damit fängt es an.
    Es ist ja nicht so, als würde irgendetwas helfen. Es ist ja nicht so, als würde es helfen, zu schreien oder zu beten oder zu weinen oder zu laufen oder zu tanzen oder mit jemandem zu reden. Doch, doch, bestimmt, du kannst reden. Du kannst unfassbar viel reden. Du kannst dabei in weichen Sesseln sitzen, und jemand vor dir bekommt ein bisschen Geld dafür, dass er dir zuhört, oder du kannst auf harten Stühlen in vollgestellten Küchen sitzen und all dein Gerede über all die Gründe auf die Tische vor dir schmeißen, du kannst es
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