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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben
Autoren: K Weßling
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dieser fünfstöckigen Krankenkästen beinhaltet zwei bis drei Fachbereiche, nur der meinige ist einzig und allein Menschen vorbehalten, die ihren Kopf nicht mehr zu gebrauchen wissen, die den Weg nur noch dorthin, aber zu keinem anderen Punkt mehr finden können, der sich außerhalb des Wunsches befindet, » das alles« möge endlich und schnell zu Ende sein.
    In dem Block wohnen Selbstmörder und Menschen, die das Waschen ihrer Hände für etwas so Essentielles halten, dass ihnen irgendwann keine Zeit mehr für etwas anderes geblieben ist. In dem Block wohnen Menschen, die manchmal leise schreien und weinen und sich winden und nicht mehr weiterwissen und die sich grämen, so sehr grämen, dass ihnen schon ein Lächeln als etwas erscheint, das weit außerhalb ihrer Vorstellungskraft liegt. In diesem Block leben Geister und Dämonen, zwischen den Stühlen und den Betten, dort wohnen die Trauer und die giftige Galle, dort wohnt mehr Menschenmüll, als ich in den Bars in den langen Nächten finden konnte.
    Und trotzdem wohnt dort auch dieser Wille, dieses unbedingte Streben nach irgendetwas, das hilft, und schlussendlich sogar eine– wenn auch abstrakte und über alle Maßen individuelle– Vorstellung davon, dass alles, irgendwann, irgendwie und sowieso wieder gut werden kann, dass die Verstrickungen nur Knoten einiger Entscheidungen waren, die durch neue, durch gesündere wieder zu entwirren sein müssen. Dort wohnt das Leben, das nicht am Ende, sondern am Anfang steht, das Leben, das sich zwar in Tränen ersaufen will, das sich in Klagen ergehen und in Jammern und Schaudern zerreißen will, das aber da ist, so sehr da ist, dass es wehtut. Kurz: In diesem Block fünf, auf den sich mein schwerfälliger Körper zubewegt, wohnt genau das Leben, das es überall gibt, das auf den Straßen liegt und in den Cafés sitzt, das mittendrin, das immer da, das nie verschwunden war. Es ist kein fremdes Leben, es ist nur das obsessive Trauern einiger Menschen, die kein bisschen anders sind als all die anderen Menschen, als du, als ich, deren einzige, winzige Andersartigkeit nur darin besteht, dass sie eine Krankheit, einen Makel, einige Anlagen besitzen, die dazu geführt haben, dass sie ein paar Wochen hier und ein paar Jahre bei einem Therapeuten verbringen müssen.
    Nachdem ich mich– wie mit der Verwaltungssekretärin telefonisch verabredet– pünktlich zur genannten Zeit mit Gepäck im Aufnahmebüro eingefunden habe, wird mir zunächst ein Platz angeboten, und ich werde aufgefordert, den Einweisungsschein und die Versichertenkarte abzugeben. Die hektische junge Frau, die sich um meine Papiere kümmert, ist nur unwesentlich älter als ich und trägt ein nervöses Zucken im Gesicht, das sie versucht zu verbergen, indem sie den Blick starr auf ihren Computer gerichtet hält und vermeidet mich anzusehen.
    Nach einer Weile schiebt sie den Packen Papier, der zuvor in einzelnen Blättern schier endlos langsam aus dem Drucker gefallen kam, als müsste sich dieser Drucker nach all den Jahren jedes einzelne dieser Formulare mühsam herauspressen, diesen Packen jedenfalls schiebt sie über den Tisch und legt einen Kugelschreiber und einen auffordernden Blick obendrauf. Ich sehe sie verständnislos an, das Zucken ihres rechten Auges, die zitternden Mundwinkel, und warte auf Instruktionen.
    » Lesen«, sagt sie. Und » unterschreiben« und » bei Fragen einfach fragen«. Ich lese viele Imperative, viele Sätze, die immer mit » Ich versichere, dass« beginnen und immer mit Eventualitäten aufhören. Ich versichere, dass ich die Kosten selbst übernehme, falls meine Krankenkasse sie nicht zahlt oder ich gar nicht erst versichert bin.
    Ich lese und unterschreibe, versichere und schiebe die Papiere zurück. Sie nickt, reißt an den Blättern und reicht mir die Durchschläge. Anschließend schickt sie mich in die Halle zurück, in der ich warten soll, bis ich abgeholt werde.
    Ich setze mich auf einen der vielen Stühle im Wartebereich und sehe mich um. An der Wand stehen ein Kaffeeautomat und ein Wasserspender, daneben ein Mülleimer, in dem sich leere Papier- und Plastikbecher stapeln. Auf einem kleinen Tisch in der Mitte liegen alte Zeitschriften, deren jüngste Ausgabe vom Januar dieses Jahres ist. Die Seiten sind zerknickt und befleckt, einige herausgerissen, andere bloß eingerissen, die Rätsel gelöst, der Psychotest ausgefüllt.
    Auch ich hatte mich einem Psychotest unterzogen, hatte vor einer Woche alle Fragen beantwortet in einem
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