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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben
Autoren: K Weßling
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herunter, draußen zieht eine Landschaft vorbei, die schön sein könnte, wäre ich noch in der Lage, sie wahrzunehmen. Die Tachonadel zittert unter der Geschwindigkeit, und meine nun eiskalten Hände haben sich um das Lenkrad verkrampft.
    In der Ferne taucht eine Brücke auf, an deren Begrenzung ein Plakat hängt, das vor zu schnellem Fahren warnt. Eine traurige Familie ist zu sehen, sie weint um eine Tochter oder einen Sohn oder für den Fotografen. Und ich weine auch. Ich weine, weil ich verloren habe, weil ich das ganze schöne Spiel versaut habe. Weil ich mich hingerichtet habe in dem Glauben, dass Erlösung denen gewährt wird, die nicht danach fragen. Im Grunde habe ich nichts anderes getan, als danach zu schreien. Mit jedem Tag, den ich im Bett verbracht habe, mit jedem Schluck Wodka, der mehr brannte als das, was in mir schrie. Nach mehr Leben, nach weniger Empfinden, nach mehr Sein und weniger Wollen, nach mehr Rettung und weniger Ich.
    110 km/h und durchschnittlich hundertzehn heiße Tropfen in der Minute, die mir auf den rechten Arm tropfen.
    Ich weine, weil niemand um mich weint, weil ich alleine bin, weil niemand fragen wird, wo ich bleibe, wenn ich nicht komme, weil niemand mich zudeckt und mir Geschichten erzählt, weil niemand mir zeigt, wo der Lichtschalter ist in dieser ganzen Dunkelheit. Der Dunkelheit, die herrscht, weil ich die Augen nicht aufbekommen habe, weil ich mir die Augen zugeklebt habe mit Idiotie und Warterei, weil ich so lange gewartet habe, bis ich vorbei war, vorbei an dem Punkt, an dem ein ganzer Park voller » Bitte Wenden«-Schilder die Nacht erhellte, weil ich in die Unfallstelle meines Lebens raste, an deren Ende eine Wand steht, und ich nicht anders konnte, als Gas zu geben, so lange Gas zu geben, bis es nur noch eine Möglichkeit gab: Draufhalten.
    Ich sehe die Brücke, und ich sehe mich in diesem Leben, das achtzehntausend Kilo wiegt, und ich weiß jetzt, was ich tun muss, was ich die ganze Zeit hätte tun sollen. Eine winzige Bewegung nach rechts, und dann ist es vorbei. Meine Hände beginnen zu zittern ob dieser Aussicht und ob der Vorstellung, dass eine ganze Familie über mir hängend weinen wird, in dem Moment, in dem das blaue Auto gegen den Pfeiler prallen wird. Eine ganze, wunderschöne Familie, die ihre Tränen auf mich fallen lassen wird, während ich mir alle Knochen und den Kopf breche.
    Ich wechsle auf die rechte Spur, noch ein paar hundert Meter. Noch ein paar Sekunden, noch einen Augenblick ich sein und dann endlich befreit sein. Von der Schwere der Körperlichkeit, von der Mühsal, sich bewegen zu müssen, einzukaufen, immer wieder neu anfangen zu müssen, immer wieder vergessen zu müssen, zu hoffen und zu atmen, Geld zu verdienen und Geld auszugeben, immer wieder Lebewohl zu sagen, obwohl man eigentlich nur sagen will: Leb mit mir wohl. Nie wieder alte Fotos finden und die Schwere im Bauch tagelang nicht mehr loswerden, nie wieder kalte Augen sehen, die sagen, es sei besser so, nie wieder taumelnd durch Nächte fallen, an deren Ende einen nur der Alkohol umarmt, während der Körper alleine friert. Nie wieder verzeihen müssen, nie wieder die Position halten, sich nie wieder entschuldigen und nie wieder aufräumen. Nie wieder Tränen auf dem Fingerrücken und nie wieder die Erkenntnis, dass es das jetzt gewesen ist, goodbye und danke schön.
    Nie wieder ich sein, nie wieder tragen, was nicht mehr zu ertragen ist.

Epilog
    A ls ich aufwache, sehe ich die Brücke im Rückspiegel, he mich selbst den Fuß vom Gaspedal nehmen, sehe, wie ich ausatme und einatme und lebe. Und mit einem Mal weiß ich: Ich habe überlebt. Ich habe die letzte Entscheidung getroffen, die zu treffen mir so unmöglich erschienen war. Die Entscheidung gegen alle Selbstverständlichkeiten. Gegen alle Angst und gegen die Wand. Ich habe mich vor ein paar Sekunden umgebracht, ohne zu sterben. Ich habe mich getötet und überlebt.
    Als ich den Blinker links setze, um den LKW vor mir zu überholen, fühlt sich die Berührung meiner Finger am Hebel an, als hätte ich sie noch niemals zuvor ausgeführt. Alles ist aus Glas, und alles ist durchsichtig.

Danksagung
    Ich danke zuallererst Patrick Klebba: Danke für diese Liebe, danke für deine unerschöpfliche Geduld mit mir, für dein Lachen und deine Hand, die hält, wenn alles zusammenfällt. Danke für all diese wunderbaren Momente mit dir und danke für dich.
    Außerdem danke ich Meike Büttner, der besten Freundin im ganzen Universum. Danke
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