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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben
Autoren: K Weßling
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ihres Mannes, und bevor dieser aus seiner Benommenheit erwacht war, hatte sie schon aus der angrenzenden Küche einen Eimer Wasser herbeigeholt, den sie auf den Teppich ergoss. Julia stand am Fuß der Treppe und beobachtete die Szenerie stumm, und als das Feuer gelöscht war, betrachtete sie ihren Vater, diesen Koloss aus Fleisch und Hass und Alkohol, und wünschte sich nicht zum ersten Mal in ihrem Leben, dass er endlich tot sein möge.
    Ich bleibe vor dem Zierrasen des Hauses stehen und versuche zu erkennen, ob jemand zu Hause ist. Kein Licht brennt, und kein Schatten bewegt sich, es ist vollkommen still in dieser Straße, beinahe so, als wären alle Bewohner geflohen. Nichts hat sich an dem Haus verändert, nur die Dekoration des Küchenfensters wurde der Jahreszeit angepasst: bunte, lachende Sterne und ein paar Papp-Mistelzweige, die jemand dort aufgehängt hat, wohl Julias Mutter. Ich betrachte die lächelnden Sterne, und plötzlich werde ich von einem Krampf gewürgt.
    All dieser Schmuck als Gegenmittel zu dem Gift, das in ihren Köpfen schwimmt. All das Essen, das immer pünktlich auf dem Tisch stand als das einzig Warme, das es in diesem Haus je gegeben hatte. Es gab das Essen und die Deko, den Fernseher und die gebügelte Kleidung. Es gab Ordnung und Sauberkeit, gewischte Fliesen und geputzte Fenster gegen den Dreck der Worte, die aus dem Sessel vor dem Fernseher zu ihnen geschmissen wurden, wenn es dunkel war, wenn es hell war, wenn er genug getrunken und sie sich nicht genug versteckt hatten vor seinem Blick, der sie so genau zu verfolgen wusste.
    Mir tropfen Tränen auf die Hose. Ich will mich abwenden und wegsehen, wegsehen, wie ich es all die Jahre schaffte– nun schaffe ich es nicht mehr. Ich starre die Deko an wie etwas, das verraten könnte, was in dieser Nacht passiert war, in dieser verdammten Nacht, in der sich der Schuss löste, der endlich Erleichterung bringen sollte.
    Einen Unfall hatten sie es genannt. Sie habe sich nur die Waffe ansehen wollen, sagten sie zu mir. Den anderen erzählten sie, Julia sei verunglückt, mit dem Auto, auf dem Weg zurück nach Hause. Das brennende Wrack auf der Landstraße, man habe das ja in der Zeitung gelesen. Die Nachbarn nickten und schwiegen und erzählten sich Geschichten von der Anwohnerin, die glaubte, einen Schuss gehört und wenig später Julias Vaters gesehen zu haben, der etwas ins Auto trug und schnell davonfuhr.
    Sie hatten sie ins Krankenhaus gebracht, hatten geglaubt, dass noch etwas zu retten sei. Dass sich der leblose Körper wieder bewegen würde, wenn nur ein paar Schläuche und ein bisschen Medizin erst einmal in ihn fließen würden. Doch Julia war sofort tot gewesen. Und niemand hatte daran etwas ändern können.
    In der Schule hatten sie gefragt, was passiert sei, ob es stimme, dass Julia in diesem Wagen verunglückt sei. Ich hatte geschwiegen und mich an meinen Platz am Fenster gesetzt. Geschwiegen und die Augen auf den Boden gerichtet. Sie war weg. Sie war einfach und unwiederbringlich weg gewesen.
    Wie benommen torkle ich zu dem Friedhof ein paar Straßen weiter, zu dem Grab, auf dem ihr Name steht. Ich setze mich auf den kalten Steinboden, der sich durch die Gräberreihen windet, und zünde mir eine Zigarette an. Eine zweite lege ich auf die niedrige Steinkante, die ihr Grab umgibt. Eine für sie, eine für mich. So war es immer gewesen, seit ich sie das erste Mal hier besucht hatte. Ich nannte es Besuche, weil ich mir vorstellen konnte, dass sie mir zuhörte, während ich hier saß, auf den Stein starrte und versuchte zu begreifen, dass all das wirklich passiert war, dass all das echt war, während ich mich gleichzeitig anstrengte zu vergessen, dass unter dieser Erde ein Skelett zerfiel, das sie war. In Gedanken sprach ich mit ihr. Erzählte ihr, wo ich jetzt lebte, wen ich jetzt versuchte zu lieben und wie ich die Tage in ihrer ganzen Gleichförmigkeit und Ödnis verbrachte.
    Hallo, hallo Mädchen. Hier bin ich wieder. Ida, falls du dich nicht erinnern solltest. Weißt du, was ich gestern gemacht habe? Ich habe Carmen geschlagen. Du hättest dabei sein sollen, es war fantastisch. Ihr Blick hätte dir Freude bereitet. Besonders als sie hingefallen ist, hat sie toll ausgesehen. Das hätte dir gefallen, wirklich.
    Warum ich zugeschlagen habe? Immer diese Fragen nach dem Warum, Julia! Weil ich ihr Make-up hässlich fand, darum. Vielleicht aber auch ein bisschen, weil sie sich wie üblich benommen hat. Irgendwann muss man ja auch mal
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