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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben
Autoren: K Weßling
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erwachsen werden, nicht? Und vielleicht habe ich ja so sogar einen wichtigen Beitrag zu ihrer geistigen Entwicklung beigetragen? Glaubst du auch? Dann habe ich ja alles richtig gemacht.
    Ich bin übrigens in der Psychiatrie. Das habe ich auch richtig gemacht. Seit acht Wochen verbringe ich meine Tage und Nächte mit diesen Menschen, die zu viele Ungeheuer im Kopf haben. Die Art, die auch in meinem sitzt. Wie das passieren konnte? Vermutlich so, wie es immer passiert: Ich sitze sehr lange sehr viel alleine zu Hause, kippe mir Schnaps in die Frühstücksflocken, denke darüber nach, warum ich so ein verkorkstes Leben habe, und will mich am Ende irgendwo hinunterstürzen.
    Manchmal kann ich nicht glauben, dass das immer so gewesen ist. Dass es nie so richtig anders war. Dass ich, seitdem ich denken kann, immer das Gefühl habe, dass es besser wäre, wenn es nicht wäre. Wenn ich nicht wäre, wenn alles andere nicht wäre, wenn der schwere Kopf nicht wäre, der zu jemand anderem zu gehören scheint. Zu jemandem, der das alles schon hinter sich hat und seinen Kopf ruft. Der Kopf sitzt einfach auf dem falschen Körper. Auf einem Körper, der jung ist und leben will. Ich frage mich, wer dann wohl meinen Kopf hat. Den, den ich eigentlich hätte bekommen sollen. Den mit guten Ideen und Mut und Wille und Freude und Glück. Den muss doch irgendjemand haben. Hast du ihn vielleicht gesehen?
    Als ich dir beim letzten Mal erzählt habe, dass ich jetzt endlich wieder studiere, habe ich gelogen. Ich habe nicht wirklich studiert, sondern bloß eine Immatrikulationsnummer bekommen. Und mir einen Stundenplan zusammengestellt. Den habe ich immer noch. Der hängt an meiner Wand und starrt mich an und will, dass ich zu den Zeiten, die dort stehen, irgendwo hingehe, mich dorthin setze und aufschreibe, was da ein paar Reihen vor mir auf einer großen Wand projiziert steht. Das habe ich nicht gemacht. Einmal, einmal habe ich das gemacht, und dann habe ich Panik bekommen. Weil die anderen alle so aussahen, als würde ihnen das leichtfallen. Das Dort-sitzen-und-begreifen. Ich habe gar nichts begriffen. Ich habe nicht begriffen, wie man Freunde findet, und ich habe nicht begriffen, wie man das aushalten soll in so einer Universität.
    Ich habe nicht sofort aufgegeben. Ich habe mich in die Mensa gesetzt und darauf gewartet, dass das Leben jetzt beginnt. Dass ich Menschen kennenlerne, die sich für die gleichen Dinge interessieren wie ich. Die Bücher lesen und kluge Sachen sagen und am Wochenende Theater spielen. Von mir aus auch Menschen, die Maschinenbau studieren. Das war mir erst mal egal. Hauptsache, das wilde, das echte Leben würde jetzt losgehen. So hatten wir uns das doch vorgestellt, oder? Dass wir studieren würden in einer aufregenden Stadt. Dass wir dort zusammenziehen und all diese interessanten, hippen Menschen kennenlernen würden. Dass wir in den Cafés sitzen und Milchkaffee trinken würden und dass wir dabei klug und elegant aussähen, so wie die anderen um uns herum. Wir haben uns vorgestellt, dass niemand mehr wissen würde, wer wir in der Schule waren. Alles auf Anfang, alles auf Rot, alles gewonnen, oder? So hatten wir uns das doch gedacht. Und dass wir lieben würden und schreien und beben und tanzen, dass wir so verdammt hart leben würden, dass wir dieses ganze Nicht-Leben aufholen könnten.
    Ich saß eine Stunde in der Mensa, und irgendwann setzte sich auch jemand zu mir. Ich sagte » Hallo!« und freute mich, dass es jetzt losgehen würde, das Leben. Das Mädchen schaute mich irritiert an und sagte dann höflich » Hi« und begann, in einer Zeitschrift zu blättern. Ich bemerkte, dass ich mich geirrt hatte. Es würde nicht losgehen. Ich war geblieben, wer ich war. Ich war noch immer Ida Schaumann, und ich war allein.
    Sicher, ich hätte am nächsten Tag wieder hingehen sollen. Ich hätte überhaupt mal irgendwo hingehen sollen. Ich hätte etwas unternehmen und weniger lamentieren sollen. Das hätte ich alles tun sollen. Aber ich bin aufgestanden, nach Hause gegangen und habe mich gehasst. Habe alles an mir gehasst. Dass ich so naiv war zu glauben, dass ich jetzt wirklich etwas hätte ändern können. Dass ich geglaubt hatte, dass das alles so schnell, so einfach, so ohne alles gehen würde. Ohne mich auf jeden Fall. Aber natürlich hat das so nicht funktioniert.
    Ich habe daraus nichts gelernt, Julia. Ich bin einfach nicht mehr in die Uni gegangen, ich bin erst mal nirgendwo mehr hingegangen. Ich hatte geglaubt, dass
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