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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben
Autoren: K Weßling
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ich es endlich schaffen würde » normal« zu sein. All diese normalen Dinge zu tun. Aber das Scheitern dieses Tages erschien mir so grandios, dass ich es gleich wieder bleiben ließ. So wie immer. So wie jedes Mal.
    Ich drücke die Zigarette aus und stehe langsam auf. Dann wende ich mich vom Grab ab und laufe nach Hause. Laufe so schnell ich kann nach Hause, um meine Sachen zu packen und von hier zu verschwinden.

Neunundzwanzig
    D as Rauschen der Autos formt sich zu einem immer gleichen Klang, der beruhigend sein könnte, wenn es nicht das Rauschen fremder Menschen wäre, die Melodie der Zivilisation, das Rauschen der Schnelligkeit, der Überholspuren und der anderen, die neben und hinter und vor mir sind.
    Das Auto ist vier Jahre alt, sagte mein Vater, ein gutes, ein solides Fahrzeug. Diese Worte mag mein Vater: solide, verlässlich, nützlich. Das Auto ist außen blau und innen grau, ein bisschen wie Julias Vater, denke ich– wie ein Auto, wie ein altes Auto, das eigentlich auf den Schrottplatz gehört. Und in diesem Punkt unterscheiden wir uns gar nicht so sehr.
    Als ich nach Hause gekommen war, stand meine Mutter in der Küche und machte den Abwasch, bis sie mich bemerkte und sofort nach meinem Vater rief, der strahlend die Treppe herunterkam. Sie forderten mich auf, mich zu setzen, und nahmen dann ebenfalls am Küchentisch Platz, auf dem noch eine Schüssel mit Spinat stand, den mein Vater hasste und wie immer nicht angerührt zu haben schien.
    In diesem Punkt war meine Mutter stoisch bis zur Selbstaufgabe: Egal, wer von uns etwas nicht essen mochte, sie hatte immer für alle gekocht und mit gierigen Blicken darauf gewartet, dass mein Bruder doch den Rosenkohl versuchte, dass mein Vater doch vom Spinat nahm, dass ich doch endlich wieder Fleisch essen würde. Immer waren es fünf Portionen von allem gewesen, und immer hatte ihr Blick jeden unserer Handgriffe verfolgt, darauf lauernd, dass wir endlich zur Einsicht kamen. Ungeachtet der Tatsache, dass selbiges nie passierte, hatte meine Mutter nicht aufgegeben und war bewundernswert optimistisch geblieben: Sie war der festen Überzeugung, dass ihr Beharren irgendwann zum Ziel führen würde, zu dem Ziel, das unser Mund war, und der Weg war die kurze Bewegung der Gabel dorthin. Wir sollten fressen, was sie uns vorsetzte.
    Nun sahen sie mich lächelnd an und warfen sich vielsagende Blicke zu, und ich konnte mir nicht vorstellen, was sie jetzt gedachten zu tun, was um Himmels willen sie mir bloß dieses Mal vorsetzen wollten. Geld? Ein frühes Erbe zu Lebzeiten? War einer von ihnen schwer krank? (Würden sie dann lächeln? Wohl kaum.) Hatte mein Bruder eine seiner fünf Freundinnen geschwängert? (Würden sie dann lächeln?)
    Ich strich über den Rand der Spinatschüssel und verspürte eine leichte Übelkeit, die bei dem Gedanken an Nahrungsaufnahme in der letzten Zeit so schnell in mir hochkam.
    Mein Vater räusperte sich und begann zu sprechen: » Liebe Ida, die Mama und ich haben uns gedacht, dass wir gerne hätten, dass du uns öfter besuchen kommst!« Er lachte sie an.
    Mir wurde schlecht.
    » Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, dir ein Geschenk zu machen, das dich bei der Erfüllung dieses Wunsches unterstützen wird.«
    Eine Bahncard, dachte ich, sie schenken mir jetzt eine Bahncard. Der Brechreiz wurde unerträglich.
    Plötzlich erhoben sich meine Eltern und sahen mich mit feierlichen Festgesichtern an. » Komm mit, wir haben da etwas für dich!« Sie sprachen alles mit Ausrufezeichen, mit einer Festlichkeit, die ich nur von Tagen kannte, an denen unsere Familie mit Verwandten und Freunden konfrontiert war. Mit einem Mal hatten sie dann immer diese Gesichter, die andächtig von Dingen sprachen, die irgendwie mit mir zu tun hatten, aber im Grunde von einer anderen Person zu sprechen schienen. Mein abgebrochenes Studium war dann ein Quell des Stolzes, schließlich hatte ich überhaupt einen Fuß in eine Universität gesetzt, und mein Scheitern war eine künstlerische Schaffenspause, die meinem interessanten Charakter den Raum gab, sich frei zu entfalten.
    Auch dieses Mal hatte ich das Gefühl, Statistin ihrer Inszenierung der Euphemismen zu sein, ein Stück der Maskierten, die ohne doppelten Boden auf einer Bühne umeinander tanzten, den Dialog improvisierten und dabei die ganze Zeit aussahen, als gelte es weniger zu überzeugen, als vielmehr zu überrumpeln.
    Mein Vater führte uns durch das Wohnzimmer, durch den Flur und durch die Haustür auf die
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