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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben
Autoren: K Weßling
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anderes für mich übrig als ein blaues Auto, Geschrei im Innen und Außen und Tränen.
    Ich hatte meine Tasche schneller gepackt, als meine Hände die Kleidung falten konnten, hatte am Ende alles nur noch hineingeschmissen, die Tasche vom Boden gerissen und war hinausgerannt, vorbei am Wohnzimmer– in dem meine Eltern vor dem Fernseher saßen und den Blick nicht einmal mehr gehoben hatten–, hatte die Haustür leise ins Schloss fallen lassen, weil ich das Gefühl hatte, keinen einzigen Laut mehr machen zu dürfen, keine Aufmerksamkeit mehr auf mich ziehen zu dürfen. Dann war ich losgefahren. Vorbei an der Schule, an der Innenstadt, an den Gebäuden meines Irrsinns, den ich mir auf die Schultern geladen und mit mir herumgetragen hatte, all die Jahre, in denen ich geglaubt hatte, ein freier Mensch zu sein. Frei zumindest von all den Dingen, die im Präteritum lagen, frei von all diesen Dingen, die immer nur mit » damals« anfingen und mit zusammengekniffenen Lippen endeten.
    Ich fahre langsam, 80 km/h im Windschatten der LKW . Ich nehme meine schweißnassen Hände abwechselnd vom Lenkrad, um sie an meiner Hose abzuwischen. Aus allen Poren dringt Flüssigkeit, aus den Augen auch, aus den Händen, aus der Stirn, der Schweiß meiner Gedanken, Wasser aus Furcht, aus Augen-zu-und-durch, aus schneller, immer schneller und Nach-vorne-sehen, während der Körper eigentlich die Augen zukneifen will, so fest zukneifen will, dass nichts aus ihnen heraus und erst recht nicht in sie hineingelangen kann.
    Ich habe immer geglaubt, alles bliebe bestehen. Nichts würde sich ändern. Niemand geht, niemand kommt, nichts passiert. Ich habe die fehlerhaften Stellen gesehen, die Eiterbeulen eines untragbaren Zustandes, den ich trotzdem viel zu lange ertrug, denn man kann so gut und viel ertragen, was schon lange nicht mehr tragbar ist, bis das Rückgrat bricht.
    Manchmal habe ich dagegen angeweint, wie man gegen eine Mauer uriniert, ich habe gegen den Zustand geheult, habe ihn mit Tränen beschmissen und mit Worten, habe ihm gesagt, dass er aufhören soll, der Zustand zu sein, der er war. Aber natürlich hat er gar nicht zugehört, hat einfach bloß geschwiegen und ist geblieben, was er war: der Zustand, den ich nicht tragen, aber zu ertragen in der Lage zu sein schien.
    Ich war fest davon überzeugt gewesen, dass die Knautschzone zwischen mir und der Realität, die die anderen durchschnittlich gleich wahrnahmen, eine angemessene Reaktion war auf mein Unvermögen, genau jenen Zustand, jene Realität so hinzunehmen, wie sie war. Denn dass sie da war, das war ganz eindeutig. Realität war nichts anderes als der Tisch, die Telefonrechnung, die Tränen im Waschbecken. Das musste nicht einmal jemand sehen, damit es wahr war, damit es da war. Egal, ob ich so tat, als sei die Rechnung unsichtbar, als sei ich unsichtbar– ich war da, ich stand im Flur mit der Rechnung in der Hand, und selbst wenn ich sie verbrannt hätte, so wäre es zwar Realität gewesen, dass die Rechnung nicht mehr existierte, die Forderung aber sehr wohl.
    Die Knautschzone zwischen mir und der Unabänderlichkeit der Dinge war mein Verneinen dieser Tatsachen, war die Erschaffung neuer Tatsachen, die ich hinstellte und so positionierte, dass sie breit genug waren, um den Tatsachen und Forderungen der Außenwelt nicht in die vielen Augen blicken zu müssen. Ich hatte mich eingerichtet, zwischen mir und dem Leben war so viel Platz wie möglich geschaffen worden, und so hatte ich Jahre damit verbracht, durch Milchglas aus Angst auf das zu schauen, was mich nicht sehen sollte: das Dasein einer begrenzten Zeit, in der mein Herz schlug, meine Lunge atmete, mein Verstand sich bewegte.
    Ich hatte gefressen, so viel, wie es mein Magen erlaubte, und geschlafen, viele Jahre lang einfach geschlafen, umhüllt von der Gewissheit, dass da draußen etwas war, das mich furchtbar ängstigte, von dem ich ganz selbstverständlich annahm, dass es grausam sein musste, dass es gefährlich sein musste, dass es nur dazu da war, müde zu machen, aufzubrauchen, zu hetzen und zu jagen. Dabei hatte ich nicht bemerkt, wie die Stille um mich herum zu einem Schallverstärker meiner sich immer nur um mich selbst kreisenden Gedanken geworden war, wie die Stille langsam alles potenzierte. Ich machte mir keine Gedanken, sondern wiederholte einfach nur noch Erinnerungen, Gefühle und Glaubenssätze, die längst keiner Überprüfung mehr standgehalten hätten– aber es kam ja niemand und überprüfte.
    Die
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