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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben
Autoren: K Weßling
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Wahrheit war, dass ich jahrelang zu Hause gesessen hatte, darauf wartend, dass sich etwas ändern würde, unfähig, mich selbst zu ändern, weil ich nichts in der Praxis tat, sondern alles nur in der Theorie durchdachte.
    Die wenigen Male, in denen ich mich aus mir herausgewagt hatte, in denen ich hinausgegangen war und den Körper dazu bewegt hatte, mit etwas in Berührung zu kommen, das er noch nicht kannte, diese wenigen Male hatte ich mich gut gefühlt. Und es schnell wieder vergessen. Es war, als würde meine Erinnerung immer achtmal mehr gute Erlebnisse benötigen als schlechte, damit etwas hängen bleiben würde, das es auch nur im Ansatz aufnehmen konnte mit den Erlebnissen, die mich davon überzeugten, zu Hause zu bleiben. In der Blase, in der ich lebte, gab es für mich nichts Gutes da draußen, nur verschmutzte U-Bahnen und Gestank, nur grobe Gesichter und Menschen, die in Zeitlupe Dinge in ihren Mund steckten, kauten und aßen, sich die Hände an Hosenbeinen und Jackenärmeln abwischten und unerträglich hässlich dabei aussahen.
    Und beinahe immer stellte sich diese Erwartung an das da draußen als richtig heraus. Und beinahe immer war das halb so schlimm. Da draußen gab es Ungeheuer und Sonnenschein, es gab Flohmärkte und Dinge anzuschauen, es gab das Leben im Großformat, auf das meine Gedanken im Kleinformat prallten, wie ein sehr schwerer Gegenstand auf eine kontinentgroße Matratze. Einen Moment spürte ich den Aufprall, aber außer mir spürte ihn niemand. Ich sah aus wie die anderen, ich bewegte mich wie die anderen, ich konnte jederzeit Teil dieser Bewegung sein, ohne mich anstrengen zu müssen. Ich war da, absolut da, egal ob ich mich versteckte oder mir die Augen zuhielt: Nichts konnte etwas daran ändern, dass mich das Leben sah.
    Doch egal wie häufig ich mich herausschlich und keines der Gefühle passierte, die ich mir als mögliche, beinahe zwangsläufige Theorie zurechtgelegt hatte: Ich hatte Angst. Und die Angst verschwand nicht. Die Angst saß immerzu im Bauch und in den Händen, in den schweren Beinen und im Nacken, sie saß neben mir und über mir, und sie schrie, schrie nach Ruhe und nach Schlaf, nach Stille und nach Rücksichtslosigkeit.
    Und ich begriff nicht, dass ich sie längst als Selbstverständlichkeit angenommen hatte. Dass ich es als selbstverständlich empfand, so viel Angst vor der Sache, die die anderen Alltag und Leben nannten, zu haben, dass ich vor ihr erstarrte und darauf wartete, dass sie zuschlagen würde. Ich war so selbstverständlich davon überzeugt, dass ich es nicht schaffen würde, ungewollt allein zu sein oder einen Haushalt so zu führen, dass das Resultat nicht darin bestand, dass ich wochenlang den Abwasch vermied und mich nur noch von Fertiggerichten und dem Bringservice ernährte, dass ich darüber vergessen hatte, dass alle Trauer, alle Angst, alle Schwere keine Selbstverständlichkeiten sein mussten. Dass ich sie akzeptierte als Teil meiner selbst, ohne zu begreifen, dass ich begonnen hatte sie zu brauchen, in der Annahme, sie schütze mich vor dem, was ich nicht imstande war auszuhalten.
    Und immer hatte ich mir einen Umriss meiner selbst zurechtgelegt, von dem ich angenommen hatte, dass er nur genau so sein konnte und keinen Moment anders, schöner, besser. Ich hatte mich gesehen als Ida voller Angst und Apathie, unfähig, mich aus mir heraus und über mich zu bewegen, Ida, die den Selbsthass und die Schuldgefühle brauchte, um sich nicht messen zu müssen mit den Erwartungen anderer, mit den Erwartungen eines ganz normalen Lebens. Auch, wenn ich nicht so genau wusste, wie das aussehen sollte, so wusste ich doch, dass ich sehr weit davon entfernt war. Ich hatte mich treiben lassen und mich versteckt, mir an jedem Ort, an dem ich gezwungen war zu sein, neue Höhlen und Verstecke gesucht, hatte meinen Körper zu einer Festung gemacht, die niemand betreten und niemand verlassen konnte. Er funktionierte wie ein Ventil: Herein kam nur noch, was ich zuließ, heraus kam so gut wie nichts.
    Ich hatte mich all die Jahre versteckt hinter Annahmen und Wahrscheinlichkeiten, hatte mir verboten zu atmen, zu stehen, zu lieben, zu geben. Ich war zu einem Ballon geworden, der alle Grenzen der Physik überwand und trotz seines unfassbar schweren Gewichts vor allem davonflog, sich unsichtbar machte mitten in der Stadt. Ich war von alldem ausgegangen , also war ich. Dabei war ich am Ende gar nichts mehr, außer am Ende.
    Mein rechter Fuß drückt das Gaspedal
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