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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben
Autoren: K Weßling
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Professor, ist mein verdammtes Problem, und das, Herr Professor, ist der Grund, warum ich hier bin, und das, Herr Kropka, Professor Dr. med., ist die Äußerung meiner Synapsen, die auf dem Grill meines völlig demolierten Kopfes liegen. So äußert sich das.
    » Hm. Ich schlafe viel. Ich schlafe unverhältnismäßig viel. An den meisten Tagen kann ich kaum das Bett verlassen, und ich habe Angst rauszugehen. Ich bin dauernd müde. Ich habe das Gefühl, dass ich irgendwie… ich weiß nicht.«
    » Verstehe. Organische Ursachen wurden ausgeschlossen?«
    Ich nickte.
    » Beschreiben Sie doch mal einen typischen Tag bitte.«
    » Ich schlafe meistens den ganzen Tag. Manchmal stehe ich kurz auf, um… um zu lesen. Oder fernzusehen. Ich mache eigentlich gar nichts mehr. Überhaupt nichts mehr. Hören Sie, ich kann das nicht besser beschreiben. Ich mache einfach nichts. Das geschieht nicht zum ersten Mal. Ich brauche wirklich Hilfe.«
    » Ja, verstehe schon. Sie wissen, was ein solcher Aufenthalt bedeutet? Sie würden hier mindestens acht Wochen bleiben. Das heißt, dass Sie sich darauf einstellen müssten, für längere Zeit Ihre Wohnung zu verlassen, um sich hier in Behandlung zu begeben. Ist Ihnen das bewusst?«
    Wie konnte mir das nicht bewusst sein. Wie konnte mir überhaupt irgendetwas in dieser schmerzlich realen Situation nicht bewusst sein.
    Er wartete auf eine Antwort. Ich sagte » Ja, bitte«, » Ja, gerne« oder etwas Ähnliches, das eher einer Art Reflex glich, das aus mir heraussprang, ohne dass mein bewusstes Zutun erforderlich war. Es ging nicht darum, einverstanden zu sein. Einverstanden konnte man mit Mobilfunkverträgen, der Wahl des Essens in einem hübschen Restaurant oder einem Kostenvoranschlag sein. Hier aber ging es um Abnicken, um Formalien, um Rettung, hier ging es darum, einen Platz zu bekommen, in dem der Irrsinn sich die für ihn angemessenen Räumlichkeiten schaffen konnte, um dort herumzutoben, um dort zu schreien, sich abzureagieren, um dort mit jemandem zu reden, warum er es für nötig hielt, meinen Kopf zu einer Art Terrordrom seiner Hyperaktivität zu machen.
    Natürlich war ich einverstanden. Ich wäre mit allem einverstanden gewesen, das diesem Irrsinn ein Ende gesetzt hätte. Ich wäre auch damit einverstanden gewesen, wenn Kropka mir mit einem sehr schweren Gegenstand rhythmisch auf den Kopf geschlagen hätte. Wenn damit nur endlich dieser Wahnsinn ein Ende gehabt hätte.
    Drei Tage später klingelte mein Telefon. Die Verwaltungssekretärin teilte mir mit, dass jemand abgesprungen sei. Es sei jetzt ein Platz frei. Ich könne am Montag kommen. Das war vor nicht einmal sieben Tagen.
    Ich hatte meine Eintrittskarte bekommen, und das war eine Eintrittskarte zurück zu einem Punkt, an dem ich schon so viele Male gewesen war und den ich jedes Mal mit Stacheldraht und Warnschildern verlassen hatte. Auf den Schildern stand, dass ich mich von diesem Ort fernhalten solle, dass ich nicht zurückkommen solle, dass das hier verbrannte Erde wäre und dass ich mich jetzt verflucht noch mal zusammenreißen würde, und zwar so dermaßen zusammenreißen, dass ich von nun an ein gesundes, glückliches Leben führen würde, mit Morgens-früh-aufstehen und immer pünktlich Tabletten nehmen und mit Sport und Freunden und einem Job und Interessen und all diesen Dingen, die wie Fluchtpunkte waren, die den Weg in ein Leben ebneten, das gesund sein sollte. Diese Schilder waren Leuchtreklame für ein Leben gewesen, das das Gegenteil von dem Punkt war, an dem ich mich jetzt befinde.
    Die Eintrittskarte lag seitdem auf meinem Schreibtisch, ein Überweisungsschein, eine Einweisung, eine Diagnose, F.32.2, schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome, und ich starrte auf den Zettel, während ich daran dachte, wie lächerlich ich mich gemacht hatte zu glauben, dass ich diesen Ort nicht wieder betreten würde, dass ich nicht wieder zurückkehren würde zu dieser Stelle, dass ich nicht jedes Mal lachend und voller Naivität und mit geschlossenen Augen besoffen und blind in meinen selbstaufgestellten Stacheldraht rennen würde. Es war mal wieder so weit. Die Wunden konnte ich mir danach jedes Mal ganz alleine lecken, denn wer rennen konnte, konnte sich auch selbst verarzten, und wer die Warnungen nicht erkannte, die er selbst so schön an jeder Ecke seines Lebenslaufes aufgestellt hatte, der hatte wohl auch nichts anderes verdient– nicht mehr jedenfalls, als wieder einmal in einem Wartebereich zu sitzen und
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