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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben
Autoren: K Weßling
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darauf zu warten, dass » es« losging, dass er abgeholt wurde, dass er ein Bett zugewiesen bekam, in dem er sich jeden Abend vor dem Einschlafen fragen musste, was um alles in der Welt ihn zu dem Wesen gemacht hatte, das ihn fortan jeden Morgen nach dem Wecken im Spiegel einer Psychiatrie ansah.

Vier
    D ie Tür ist zu. Das ist schon mal ein Anfang. Ich bin drin. Ich stehe im ersten Stock und warte auf Frau Wängler, die, wie mir zuvor von einem Pfleger mitgeteilt wurde, meine Therapeutin sein wird. Aus einem Zimmer am Ende des Flures tritt eine Frau Mitte dreißig in einem weißen Kittel heraus und läuft mit eiligen Schritten auf mich zu.
    » Ida Schaumann?«
    » Ja?«
    » Gut, wir haben Sie schon erwartet!«
    Im Gehen erklärt sie: » Mein Name ist Beate Wängler, ich bin Ihre Therapeutin. Ich nehme Sie jetzt mit zu einem Vorgespräch. Danach wird Ihnen jemand Ihr Zimmer zeigen, und Sie können Ihr Gepäck ablegen. So, bitte, hier herein.« Sie hält mir die Tür zu dem Zimmer am Ende des Flures auf, aus dem sie kam, und ich betrete den Raum mit der Nummer 1016. Ein Schreibtisch, drei Stühle, ein Bücherregal, ein Therapeut, eine Verrückte. Verrückt, wie sich manche Dinge auf die immer gleiche Weise wiederholen.
    Beate Wängler. Dreitausendsiebzig Google-Ergebnisse in 00,13 Sekunden. Hat Psychologie in B. studiert. Keine besonderen Einträge über Studiendauer oder Studienschwerpunkte. Vierjährige Ausbildung zur Psychotherapeutin am Lehr- und Universitätskrankenhaus in G. Danach Anstellungen in H., B. und seit zwei Jahren in der Klinik H. Mehrere Publikationen in verschiedenen Fachmagazinen, Teilnehmerin einiger Podiumsdiskussionen zu dem Thema » EKT – retrograde und anterograde Gedächtnisstörung: Fluch und Chance«. Verheiratet, kinderlos. Außerdem blondes, schulterlanges Haar, meistens zu einem Zopf gebunden.
    Beate Wängler legt ihre Hände in den Schoß und sieht mich an. Atmet aus und sieht mich an. Atmet ein und sieht mich an. Lächelt und sieht mich an. Schlägt die Beine übereinander und sieht mich an. Ich sehe zurück, sehe weg, sehe mich im Raum um, sehe den September vor dem Fenster, sehe Bücher, sehe Baumkronenspitzen aus einer Welt, die ab heute nur noch da draußen sein wird.
    Manche Dinge ändern sich mit einem Mal auf eine unvorhergesehene Weise. Etwas wird weggenommen oder hinzugefügt, und plötzlich entstehen Relationen, die zuvor zwar denkbar, aber nicht relevant erschienen.
    Da draußen war schon seit geraumer Zeit für mich ein Garten aus Dornen und Gestrüpp geworden, in dem ich mich immerzu verlief, in dem ich mir Verletzungen zuzog, versuchte ich, diesen Garten aufzuräumen, zu entwirren oder auch nur kennenzulernen.
    Ein einziges Wort, das Einsteigen in einen Bus, das Nachdenken über das Kind, das sich gerade über die Schulter der Mutter erbrach, genügten, dass die Sicht und Betrachtung, die ich bis dahin auf das Leben um mich gehabt hatte, dass dieser Blickwinkel sich sofort Kratzer und Blessuren zuzog und an manchen Stellen so weit auseinanderklaffte, dass ich hinaussehen konnte und verstand, dass das Realität war, dass das das Leben war, von dem die anderen sprachen.
    In diesem Moment, in diesem Zimmer wird die Diskrepanz zwischen mir– was drinnen bedeutet– und dem da draußen um eine Variable erweitert: Die Mauern dieses Gebäudes zeigen, dass ich jetzt offiziell drinnen bin und alles andere offiziell draußen. Einzig das Offizielle genügte, um die Relationen endlich deutlich zu machen.
    » Frau Schaumann, sind Sie anwesend?«
    » Ja, natürlich bin ich anwesend.«
    » Gut, erzählen Sie mir, warum Sie hier sind.«
    » Das ist doch offensichtlich.«
    » Ich möchte es aber gerne noch einmal von Ihnen hören. Mit Ihren Worten.«
    » Ich bin hier, weil es mir nicht gut geht.«
    Ich hasse blonde Haare. Ich hasse es, dass sie nur ungefähr zehn Jahre älter ist und dass sie ungefähr dreitausend Euro mehr verdient als ich (also überhaupt etwas) und dass sie so etwas wie Karriere gemacht hat und dass sie jetzt vor mir sitzt mit ihrem Studium und ihrem Ehering und ihrem Pferdeschwanz an einem Kopf, aus dem Fragen wie Wartenummern herauskommen, während jemand unablässig auf einen Knopf drückt und nie zufrieden ist mit der Nummer, die der Automat für ihn ausspuckt.
    » Was heißt das genau?«
    » Mir geht es nicht gut, weil… keine Ahnung. Das steht doch schon alles da in Ihren Unterlagen!«
    » Beschreiben Sie doch bitte einmal, wie es Ihnen genau geht, wenn es
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