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So will ich schweigen

So will ich schweigen

Titel: So will ich schweigen
Autoren: Deborah Crombie
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Prolog
    Ende November
    Der Nebel stieg in Wirbeln von der unbewegten Oberfläche des Kanals auf. Er schien wie ein lebendiges Wesen, eine formlose Kreatur, geboren aus der Dämmerung. Für Ende November war es ein ungewöhnlich warmer und klarer Tag gewesen, doch nach Sonnenuntergang hatte es rasch abgekühlt. Fröstelnd zog Annie Lebow die alte Strickjacke ein wenig fester um ihre schmalen Schultern.
    Sie stand im Heck ihres Bootes, der Lost Horizon , den Blick auf die kahlen Bäume entlang der Biegung des Kanals gerichtet, und sog den eigenartig modrigen und kühlen Geruch ein, den das Wasser am Abend ausströmte. Wie immer erfüllte der Geruch sie mit einem quälenden Verlangen, einer Sehnsucht nach etwas, was sie nicht in Worte fassen konnte, und einer Melancholie, die von Mal zu Mal tiefer wurde. Der Schein der Kabinenbeleuchtung in ihrem Rücken war warm und einladend, doch für sie signalisierte er nur das Herannahen der Nacht und der Schrecken, die sie brachte. Und obwohl ihre Isolation selbst gewählt war, war sie dadurch nicht leichter zu ertragen.
    Es war jetzt fünf Jahre her, dass Annie den Mann verlassen hatte, mit dem sie zwanzig Jahre lang verheiratet gewesen war, und ihren Job bei der Sozialbehörde von South Cheshire aufgegeben hatte. Mit dem angesparten Geld aus ihrem Anteil am Seehandelsunternehmen ihrer Familie hatte sie sich die Horizon gekauft. Sie hatte sich eingebildet, dass das schlichte Leben
auf einem Boot – achtzehn Meter lang und gerade einmal zwei Meter zehn breit – zusammen mit der physischen Herausforderung, es ohne Hilfe zu führen, die bösen Geister im Zaum halten könnte. Eine Zeit lang hatte es auch funktioniert. Sie hatte den Cut – wie die alten Schiffer den Kanal nannten – ins Herz geschlossen und war überrascht von ihrer eigenen Kraft, stolz auf ihre Geschicklichkeit. Ihre Erkundungsfahrten auf dem Netz von Wasserwegen im mittelenglischen Binnenland hatten sie von Cheshire nach London geführt, dann zurück über die nördliche Industrieroute nach Birmingham, Manchester und Leeds – so lange, bis sie irgendwann das Gefühl gehabt hatte, ohne Anker auf dem Meer der Zeit zu treiben, auf den Spuren all der zähen, hart arbeitenden Menschen, die vor ihr diese Strecken gefahren waren.
    Aber in letzter Zeit war dieser geisterhafte Trost mehr und mehr verblasst, und sie war unbewusst immer öfter zu den Stätten ihrer Vergangenheit zurückgekehrt, nach Cheshire, an den Shropshire Union Canal bei Nantwich. Wieder bestürmten sie die Erinnerungen, und im Vergleich mit den Gräueln, die sie in ihrer Zeit beim Jugendamt erlebt hatte, schien das, was ihr in ihrem Privatleben widerfahren war, geradezu lächerlich. Sie hatte immer zu viel Angst gehabt, etwas zu verlieren, als dass sie es gewagt hätte, in dieser finsteren Welt ihre eigenen Zeichen zu setzen. Sie hätte bei ihrem Mann bleiben sollen, ein Kind bekommen – aber jetzt war es für beides zu spät.
    Sie wandte sich zu der hell erleuchteten Kabine um, angelockt vom Gedanken an die Flasche Weißwein im Kühlschrank. Ein Glas nur, sagte sie sich, um den Übergang zum Abend abzufedern … doch sie wusste, dass ihre Disziplin nicht lange vorhalten würde, wenn die langen Nachtstunden dahinkrochen. Seit wann, fragte sich Annie, fürchtete sie sich eigentlich vor der Dunkelheit?

    Vor ihr verlor sich der Kanal zwischen den überhängenden Bäumen, lockte mit dem vagen Versprechen neuer, unbekannter Landschaften, und eine kühle Brise wehte über das Wasser. Rasch dahinjagende Wolken schoben sich vor den aufgehenden Mond, und Annie fröstelte erneut. Jäh entschlossen sprang sie auf den Leinpfad. Sie würde das Boot den Kanal hinauf bis Barbridge bringen, ehe es völlig dunkel war. Das lebhafte, lärmende Treiben im alten Gasthaus am Kanal wäre eine willkommene Ablenkung. Vielleicht würde sie sogar hineingehen, um etwas zu trinken, und den Weißwein fest verkorkt lassen, als Trostspender für eine andere Nacht. Und gleich am nächsten Morgen würde sie weiterfahren und diesen Ort hinter sich lassen, an dem die Vergangenheit so viel gegenwärtiger schien.
    Als sie sich auf den weichen Rasen kniete, die Vertäuleine in der Hand, spürte sie die Erschütterung, noch ehe sie die hastenden Schritte hörte, den keuchenden Atem des Läufers. Und ehe sie eine Bewegung machen konnte, hatte die dahinjagende Gestalt sie schon fast über den Haufen gerannt. Sie sah das bleiche, wilde Gesicht des Jungen, und seine klatschnasse Kleidung
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