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So will ich schweigen

So will ich schweigen

Titel: So will ich schweigen
Autoren: Deborah Crombie
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sie einen weiteren Brocken Mörtel aus der Wand gelöst hatte. Jetzt konnte sie schon mehr von dem Stoff sehen, konnte das kleine Muster erkennen – springende Schafe, schmutzig weiß auf dem fleckigen rosa Untergrund. Es sah aus wie die Decken, die ihre Kinder als Babys gehabt hatten. Ausgesprochen merkwürdig. Der Stofffetzen schien in einem Hohlraum zu
stecken, der nur mit einer dünnen Mörtelschicht verschlossen gewesen war. Sie trat ein Stück zur Seite, um nicht im Licht zu stehen, und zupfte an dem Fetzen, zog ihn noch ein Stück weiter heraus. Er schien um irgendetwas gewickelt zu sein, eine weitere Stoffschicht … rosafarbener Stoff, mit einer Reihe rostiger Druckknöpfe.
    Es ist eine Puppe, dachte sie, immer noch verwirrt – eine schwarze Babypuppe in einem rosa Strampelanzug. Warum sollte jemand eine Puppe in eine Stallwand einmauern?
    Und dann erkannte sie, dass das echte Haarbüschel waren auf dem winzigen Kopf; dass das Gesicht nicht aus braunem Plastik bestand, sondern aus ledriger Haut; dass in diesen leeren Höhlen einmal Augen gesessen hatten – und dass von den winzigen Händen, die unter dem Kinn steckten, nur blanke Knochen übrig waren.

2
    Hugh Kincaid stieg noch einmal auf die Leiter, um die Lichterkette zurechtzurücken, die er über das Vordach des alten Bauernhauses gehängt hatte. Der Himmel über dem Giebel hatte die Farbe alten Zinns angenommen, was nichts Gutes verhieß, und von der schneidenden Kälte hatte seine Nase zu laufen begonnen. Aber er wagte es nicht, eine Hand von der Leiter zu nehmen, um sie abzuwischen. Seine Lage war ohnehin schon prekär genug.
    Unten stand seine Frau und hüllte sich enger in ihre Jacke, um sich vor dem Wind zu schützen. »Hugh«, rief sie zu ihm herauf, »komm da runter, du brichst dir noch den Hals! Sie werden jeden Moment hier sein. Willst du, dass dein Sohn dich auf dem Rücken liegend im Garten findet?«
    »Ich komm ja schon, Schatz.« Nachdem er noch einmal an der Kette gezupft hatte, kletterte er vorsichtig zu ihr hinunter. Sie hängte sich bei ihm ein, und zusammen traten sie ein paar Schritte zurück, um das Funkeln der bunten Lichter vor dem Hintergrund des dunkelroten Mauerwerks zu bewundern. Das Haus war schmucklos, ein schlichter würfelförmiger Bau im Stil der Cheshire Plain, aber gemütlich. Zwar war die Zeit nicht ganz spurlos daran vorübergegangen – aber das traf ja auch auf ihn selbst zu, dachte Hugh.
    »Sieht ein bisschen armselig aus«, meinte er mit einem kritischen Blick auf den Lichterschmuck. »Nur eine einzige Kette. Ich hätte mehr aufhängen sollen.«
    »Sei doch nicht albern.« Rosemary zwickte ihn durch den
dicken Stoff seiner Jacke hindurch. »Du benimmst dich wie eine nervöse alte Glucke, Hugh, und du kletterst mir jetzt nicht mehr aufs Dach.« Ihr Ton war liebevoll, aber bestimmt, und er seufzte.
    »Du hast natürlich recht. Es ist nur, weil …« Er hatte doch sonst keine Probleme, sich klar auszudrücken, aber jetzt fehlten ihm unerklärlicherweise die Worte. Er hätte nicht gedacht, dass ihn die Aussicht, seinen Enkel kennenzulernen, so nervös machen würde. Dabei hatte er ja schon zwei Enkelkinder, Lally und den kleinen Sam, die jetzt gerade im Haus auf den Besuch warteten. Aber irgendwie – und er würde sich hüten, es jemals zuzugeben, nicht einmal Rosemary gegenüber -, irgendwie war dieser Sohn seines Sohnes in seinen Augen etwas ganz Besonderes, und er wollte, dass alles perfekt war.
    Es erschreckte ihn, dass er, der sich immer für einen so fortschrittlichen und emanzipierten Mann gehalten hatte, solche Gefühle hegte, aber so war es nun einmal. Und er fragte sich sogar unwillkürlich, ob der Junge je darüber nachdenken würde, seinen Namen zu ändern, damit die Kincaid-Linie fortgeführt werden könnte.
    Hugh schnaubte verächtlich über seine eigene Eitelkeit, und Rosemary sah ihn fragend an. »Ich bin ein alter Narr«, sagte er und schüttelte den Kopf.
    »Natürlich bist du das, aber es wird schon alles gut gehen«, erwiderte sie, und er wusste, dass sie wie immer seine unausgesprochenen Gedanken erraten hatte.
    Er zog sein Taschentuch aus der Jackentasche und putzte sich die Nase. Rosemary hatte recht, das sah er jetzt ein. Die Lichterkette sah wirklich festlich aus, und dazu funkelte noch im Wohnzimmerfenster der Weihnachtsbaum. »Was hast du eigentlich mit den Kindern gemacht?«, fragte er. Er wunderte sich, dass sie nicht mit ihrer Großmutter nach draußen gekommen waren.

    »Sie
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