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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
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Menschen von der Titanic und der Carpathia versammelten sich im großen Gesellschaftsraum. Dort sprachen sie ein Dankgebet im Namen der Lebenden und erwiesen den Toten die letzte Ehre, und während sie ihre Gebete murmelten, dampfte die Carpathia über das Grab der Titanic hinweg.
    Als der Gottesdienst vorüber war, erschienen zwei weitere Schiffe am Horizont, zuerst die California und dann die Birma, ein russischer Dampfer.
    Raubold hörte, wie der Kapitän zu einem seiner Offiziere sagte:
    »Wir sollten die weitere Suche den anderen Schiffen überlassen und nun so schnell wie möglich mit den Geretteten Land ansteuern. Ismay hat schon zugestimmt. Er ist mit allem einverstanden, egal, was ich vorschlage, er macht mir den Eindruck eines gebrochenen Mannes.«
    Die Offiziere nickten stumm.
    »Halifax wäre am nächsten«, sagte Rostron, »aber um dorthin zu gelangen, müssten wir nordwärts durch ein Eisfeld dampfen. Das möchte ich den Leuten ersparen.« Er war offenbar der Meinung, dass man den geretteten Passagieren den Anblick von Eisbergen nicht mehr zumuten sollte. »Wir fahren zurück nach New York!«, sagte Rostron. »Volle Kraft voraus!«
    Um neun Uhr gab Rostron die Suche auf, und die Carpathia drehte ab.
    Raubold hatte keine Ruhe, sondern durchstreifte stundenlang die Decks und die Innenräume der Carpathia. Wie zahlreiche andere der geretteten Passagiere, die auf der Suche nach Angehörigen und Freunden waren, durchkämmte er die Gemeinschaftsräume, die Gemeinschaftskabinen, die Decks und das Lazarett der Carpathia. Frauen suchten nach ihren Männern, Töchter nach ihren Vätern. Raubold selbst suchte vor allen anderen nach einer Frau und ihrem Freund.
    Viele der Damen, die ohne ihre Männer in die letzten Boote gestiegen waren, hatte das Unglück zu Witwen gemacht. Raubold erblickte Madeleine Astor im Gespräch mit Mrs. Widener, der Gattin des Straßenbahnkönigs von Philadelphia. Beide Damen weinten bittere Tränen. Offenbar waren sie der Überzeugung, dass ihre Ehemänner nicht mehr lebten.
    Keiner der Männer, die er kurz vor dem Untergang noch über das Deck hatte flanieren sehen, war an Bord der Carpathia gelangt: weder Colonel Astor noch Mr. Widener und Mr. Hays nicht und auch nicht Mr. Stead. Er begegnete Mrs. Thayer, die ihm erzählte, dass ihr Gatte auf der Titanic zurückgeblieben war. Auch Mr. und Mrs. Strauss waren nicht zu sehen, und keiner der Herren, die Raubold im Rauchsalon beim Kartenspielen gesehen hatte, war an Bord der Carpathia gelangt. Zu seiner Freude begegnete Raubold aber dem Immobilientycoon Garfield.
    »Raubold, altes Haus«, rief dieser überschwänglich, als er ihn erblickte. »Sie haben es also auch geschafft.«
    Garfield wurde schnell wieder leise. »Wo sind die anderen – wo ist unsere schöne Mrs. Appleton? Die Damen sind doch alle gerettet worden, wie ich hörte.«
    »Ich hatte auch gehofft, dass sie an Bord der Carpathia sei«, sagte der Reporter mutlos.
    Garfield machte ein bekümmertes Gesicht.
    »Hm! Ich glaube nicht, ich habe sie nicht gesehen. Aber vielleicht ist sie auf einem der anderen Boote.«
    »Ja, ich hoffe es auch.«
     
    *
     
    Am späten Vormittag hatte Raubold das Gefühl, alle Überlebenden der Titanic, die sich an Bord der Carpathia gerettet hatten, gesehen zu haben. Seine Stimmung wurde immer bedrückter. Je mehr Zeit verstrichen war, umso mehr Erinnerungen und Bilder von Passagieren waren in ihm aufgestiegen, Erinnerungen an Menschen, denen er an Bord der Titanic begegnet war, die er aber auf der Carpathia nicht wiederfand, sodass er nun befürchten musste, dass all diese Menschen mit der Titanic untergegangen waren.
    Gegen Mittag traf Raubold den Kapitän an der Reling. Raubold trat neben ihn und blickte auf das Meer, und zwar in die Richtung, wo sich in inzwischen weiter Ferne der Ort befand, an dem die Titanic gesunken war.
    »Was ist mit den anderen?«, fragte er Kapitän Rostron, »ich meine, mit denen, die nicht auf der Carpathia sind?«
    Der Kapitän schüttelte den Kopf.
    »Von denen lebt niemand mehr.«
    »Die anderen Schiffe sind ja noch an der Unglücksstelle«, sagte Raubold. »Könnten sie nicht den einen oder anderen Überlebenden gefunden haben?«
    Der Kapitän sagte eine Weile nichts, und Raubold hatte ein komisches Gefühl.
    »In diesem eisigen Wasser hat niemand mehr überlebt«, sagte er.
    »Aber vielleicht in einem der anderen Boote.«
    Rostron blickte zu den aufgedockten Booten. »Sieben der Rettungsboote haben wir in unsere
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