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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
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der scheinbar endlosen, finsteren Straßenzüge, in denen es nur wenige Laternen gab und die menschenleere Stille einen furchtbaren Kontrast zu den geschäftigen Straßen bildete, die sie verlassen hatten.
    Hier gab es weder Pferdeomnibusse noch Straßenbahnen, nur die eine oder andere menschliche Gestalt, die schattenhaft vorüberhuschte, und ganz selten einmal ein anderes Auto oder Gefährt. London war auch eine schweigende Stadt, wurde Gladys in diesem Moment klar, und dieses Schweigen war das seiner ungeheuren Größe. Bei Nacht, erkannte sie bestürzt, war London eine Stadt der Toten.
    Vorbei an Häusern mit wenigen Fenstern, zwischen nackten Ziegelwänden hindurch, verlief die Straße unterhalb der großen Mauern und alten Lagerhäuser, während die angrenzenden Straßen sich hinter Gasanstalten und Mietshäusern zu verstecken schienen. Zu allen Zeiten war dies eine Gegend der Gesetzlosigkeit gewesen, das wusste sie nur zu gut, und am Execution Dock, auch eine Stätte des Todes, hatte man diejenigen in die Ewigkeit befördert, denen man Verbrechen auf hoher See zur Last legte.
    Im Fahrzeug herrschte dumpfes Schweigen. Keiner der Männer schien ein Interesse daran zu haben, darüber hinwegzutäuschen, dass die Fahrt kein gutes Ende nehmen würde. Während der Wagen durch die engen Straßen eines finsteren, einsamen Viertels holperte, saß Gladys in den Sitz gepfercht, erfüllt von bangen und hoffnungslosen Gedanken an die Schrecken der Nacht. Die Magazine und Häuser ringsum waren alt und verfallen, und zwischen ihnen taten sich schmale Gassen auf. Es ging um ein paar dunkle Ecken, und dann rollte der Wagen minutenlang auf einer leicht abschüssigen Straße weiter, bis er auf ein verlassenes Grundstück abbog.
    Nachdem der Wagen gestoppt hatte, wurden die Türen aufgerissen und Gladys aus dem Fond des Wagens gezerrt. In kaum mehr als 20 Metern Entfernung erblickte sie wieder die Themse, und mit einem Gefühl bohrenden Entsetzens wurde ihr klar, dass die Fahrt nicht zufällig in unmittelbarer Nähe des Flusses geendet hatte.
    »Verdammte Idioten«, schrie Phil, der kurz vor ihr aus dem vorderen Wagen geholt worden war; »damit kommt ihr nicht durch!« Er fasste den neben ihm stehenden Mann an der Kehle, erreichte damit aber nur, dass der Kerl, der rechts neben Gladys stand, ein Messer zückte und es ihr an die Kehle drückte, eine unmissverständliche Warnung, wie man weiterem Widerstand von seiner Seite begegnen würde.
    Phil ließ die Hand sinken und fügte sich in das Unvermeidliche, aber Gladys wusste, dass er es nur ihretwegen tat. Wäre er allein gewesen, hätte er sich nicht besänftigen lassen.
    »Ich habe keine Zeit für einen Ausflug«, sagte Phil zu dem Mann, der ein paar Meter schräg vor ihm stand. »Es ist spät, Frank! Bringt uns zurück oder fahrt uns am besten gleich nach Hause!«
    Der Angesprochene sah ihn lächelnd an. Er hieß Frank Jago und war Phils Partner im gemeinsam betriebenen Vergnügungsgeschäft. Wie Phil trug er einen schwarzen Smoking, weiße Fliege und eine weiße Hemdbrust. An seinem Revers steckte eine Blume.
    »Ja, es ist spät«, entgegnete Frank Jago lächelnd, »zu spät, aber hab etwas Geduld, es wird nicht mehr lange dauern, dann ist es vorüber. Wir halten uns nicht lange mit dir auf!«
    Gladys wurde schlecht. »Lass es dir nicht gefallen, Phil«, sagte sie laut. »Du bist der Chef. Sie dürfen das nicht mit uns machen!«
    »Gladys hat recht«, fauchte Phil und sah zu den anderen Männern. »Jeffrey! Du bist mein Freund – verteidige mich gegen diesen Narren!«
    »Tut mir leid, Phil«, sagte Jeffrey zögernd, »ich kann nichts für dich tun.«
    Das war deutlich, umso mehr, weil es aus dem Mund eines alten Freundes kam, und Gladys dachte, dass auch Phil spätestens in diesem Moment wusste, was ihm blühte.
    Die Männer, die sie verschleppt hatten, nahmen sie nun in ihre Mitte und stießen sie in Richtung des Flusses. Das ging alles so schnell, dass Gladys kaum Zeit hatte, darüber nachzudenken, was sie unternehmen könnte, um dem Schlimmsten zu entgehen.
    Sie sah die Lagerhäuser und Backsteinmagazine, die sich an der Themse erhoben, dazwischen verlassene Docks, eingebettet in die Anmutung von Düsternis, die unter der schwach bewegten Wasseroberfläche lag. Der Geruch vergangener Zeiten lag über dem Ort, die trübselige Erinnerung an Heerscharen von Verlorenen – ein Ort des Jammers und des Elends, den man normalerweise mied. Die Themse war ein dunkler Fluss, der eine
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