Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
Vom Netzwerk:
für dich, dass du die Regeln akzeptierst«, sagte Jago. »So, und nun brauche ich eine Mütze Schlaf.«
    Mit diesen Worten drehte er sich zur Seite, und es dauerte keine fünf Minuten, bis Gladys ein leises Schnarchen neben sich vernahm.
    Er hat Mut, so neben ihr zu entschlummern, dachte sie. Wie alle Leute mit Macht war er sich seiner selbst zu sicher. Er merkte nicht, dass er Gefahr lief, denselben Fehler zu begehen wie Phil. Doch würde sie es wirklich wagen, das Stilett zu benutzen? Sie rüttelte ihn an der Schulter.
    »Was willst du noch?«
    »Soll ich dich irgendwann wecken?«
    »Nein, ich wache von allein auf, wenn es Zeit zum Aufstehen für mich ist. Und jetzt lass mich in Ruhe!« Mit diesen Worten drehte er sich zur Seite.
    Sollte sie sich in ihr Schicksal fügen, so wie viele andere Frauen in ihrem Umfeld es taten? Was stand ihr bevor, wenn sie Jagos Geliebte wurde? Für die nächsten Jahre würde sie auf Gedeih und Verderb seinem Willen ausgeliefert sein – bis zu dem Tag, an dem ein jüngeres Mädchen ihre Stelle einnehmen würde. Ihre Rolle wäre keine andere als an der Seite von Phil Ryland – allerdings mit dem kleinen, aber bedeutsamen Unterschied, dass Frank Jago nicht Phil Ryland war. Was an Phils Seite ein erträgliches Schicksal gewesen wäre, an der Seite von Frank Jago bedeutete es eine jahrelange Tortur. Die Antwort auf die Frage, die sie sich selbst gestellt hatte, lautete: Nein! Das Schicksal, das Frank Jago ihr zugedacht hatte, war keine Alternative, die sie ernsthaft in Betracht ziehen konnte. Sie wollte nicht die Geliebte dieses grausamen Verbrechers sein, sondern genau das tun, wovor Jago sie unter Hinweis auf das Schicksal des ermordeten Mädchens gewarnt hatte: Sie wollte sich den Mann, mit dem sie ihr Bett teilte, selbst aussuchen, und sie brauchte und wollte keinen neuen Beschützer.
    Um aber ihren Willen durchzusetzen, musste sie verschwinden, und zwar an einen Ort, der so weit weg war, dass man ihr nicht dorthin folgen konnte. Das bedeutete, sie musste nicht nur London verlassen, sondern auch England, und zwar so schnell wie möglich. Ihre Gedanken wanderten zu den beiden Fahrkarten für die Titanic-Passage, die sich zusammen mit ihrem Geld in ihrem Handgepäck befanden. Das übrige Gepäck war bereits aufgegeben worden und gelangte ohne ihr Zutun an Bord der Titanic, die morgen nach Amerika fuhr, nach New York, in diese riesige Stadt, die in ihrer Vorstellung das beste aller Verstecke war. Das Schiff würde in ungefähr zwölf Stunden von England ablegen, überlegte sie; und bis dahin musste sie auf dem Kai von Southampton sein.
    Phil und sie hatten geplant, um 9.45 Uhr den Zug zu nehmen, der speziell für die Erste-Klasse-Passagiere bereitstand und der gegen 11.30 Uhr direkt am Kai der White-Star-Line eintreffen sollte. Doch sie wusste, dass es einen weiteren Titanic-Express gab, der Waterloo-Station bereits um 7.30 Uhr verließ. Um auf das Schiff zu kommen, musste sie nur ihren Mantel überwerfen, ihre Handtasche nehmen und die Wohnung verlassen, und zwar bis spätestens 6.30 Uhr.
    War es sinnvoll, auf die Titanic zu gehen? Wusste wirklich niemand von Phils geplanter Reise nach New York? Bei dem Abendessen mit Phils Mördern war die Jungfernfahrt der Titanic kein Thema gewesen; Phil hatte ihr vorher eingeschärft, die Reise nicht zu erwähnen. Keiner von seinen Leuten durfte wissen, dass er und sie an der Jungfernfahrt teilnehmen würden, und sie hatte sich gewundert, weshalb er ein solches Geheimnis daraus machte. Aber da sie gewohnt war, sich nicht einzumischen, hatte sie nicht weiter nach den Gründen für seine Geheimniskrämerei gefragt.
    Phil hatte vor seinen Männern also etwas zu verbergen gehabt. Nicht von ungefähr hatte Jago ihn als Verräter bezeichnet und ihn ermordet. Sie wusste, dass der Aufenthalt in New York nicht nur ein Urlaub sein sollte, sondern auch geschäftliche Gründe hatte. War die New York-Reise Teil der eigenwilligen Pläne gewesen, deretwegen Phil hatte sterben müssen?
    Sie sah zu dem leise schnarchenden Mann und überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis man seine Leiche entdeckte, falls er heute Nacht in diesem Bett starb. Morgen war Mittwoch! Das Hausmädchen, das die Wohnung sauber hielt, würde erst am Donnerstag in die Wohnung kommen. Bis dahin würde die Leiche von Jago, wenn sie Glück hatte, unentdeckt bleiben. Morgen war er mit seinen Leuten in seiner Stammkneipe in der Borough High Street zum Mittagessen verabredet. Davor würde
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher