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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
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mit bedeutenden Vergnügungsvierteln, wo sie mit ihrem Aussehen ohne Schwierigkeiten eine Anstellung finden würde, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
    Es war das Bild des wundervollen Schiffes, das ihren Gedanken eine andere Richtung gab und ihr das Reiseziel der Titanic in ein glanzvolles Licht rückte. New York! Schon dieser Name war Verheißung! Paris und Hamburg lagen doch viel zu dicht an England, und es war gerade in diesen Orten nicht auszuschließen, dass man sie dort zufällig entdeckte. Verbindungen der Londoner Unterwelt zu der in Hamburg und Paris gab es zuhauf.
    Amerika hingegen war weit genug weg. Das Land war groß; und sollte New York nicht halten, was sie sich davon versprach, könnte sie nach Chicago oder nach San Francisco gehen oder in irgendeine andere Stadt im Westen. Oder gar in die Provinz, in den mittleren Westen oder in eine Gegend, wo es noch Indianer gab. Dorthin würde ihr niemand folgen, um sich an ihr wegen ihrer Treulosigkeit und der Sache mit Jago zu rächen. Vielleicht fände sie einen netten Mann, mit dem sie eine Familie gründen könnte. Bei diesem Gedanken schmunzelte sie. Gladys Candee aus dem Londoner Osten als die Frau eines Farmers im Mittelwesten mit einer Schar Kinder? Nein, dazu würde es sicherlich nicht kommen; andererseits, dachte sie dann, wäre sie nicht die erste Frau mit Vergangenheit, die anderswo ein völlig neues und von dem früheren ganz verschiedenes Leben begann.
    Die unbestimmte Angst, dass jemand sie verfolgte, war durch den Anblick der Titanic jedoch nicht gewichen, im Gegenteil! Die Abfahrt der Titanic wurde von vielen Menschen beobachtet, wie sie bei der Ankunft festgestellt hatte, und fand auch in der Presse ein lebhaftes Echo. Noch war sie nicht in der neuen Welt, und es war nicht auszuschließen, dass jemand, der sie kannte, von ihrer Flucht über den Atlantik erfuhr. Wie auch immer! Ihr Ziel war Amerika; alles Weitere würde sich finden, und ihr Gefühl sagte ihr, sie solle das nächste Schiff nehmen, um aus England zu verschwinden. Sie würde alle Vorsichtsmaßnahmen treffen, die ihr möglich waren, musste das Risiko, dass man ihre Spur bis auf die Titanic verfolgte, jedoch eingehen. Ihr Leben war noch nie ohne Risiken verlaufen, machte sie sich Mut, letztlich war es immer gut gegangen. Warum sollte es dieses Mal anders sein? Es gab schlichtweg keinen schnelleren Weg, das Land zu verlassen, als die Passage an Bord des neuen Ozeanliners der White Star.
    Als sie die Rückkehr zum Hafen antrat und die Landungsbrücke erreichte, war ihre Entscheidung gefallen. Inzwischen war auch der 9.45-Uhr-Zug mit dem Gros der Erste-Klasse-Passagiere eingetroffen. Überall an der Reling sah man Menschen, die aufgeregt das Ablegen des Ozeanriesen erwarteten. Auf einem der Decks spielte ein Orchester, und auch unten auf dem Kai hatten Musikkapellen Aufstellung genommen. Es herrschte Volksfeststimmung, denn eine unüberschaubare Menschenmenge war unterwegs, Reisende zu verabschieden oder einfach dabei zu sein, wenn der neue Ozeanliner zu seiner Jungfernreise über den Atlantik aufbrach.
    Sie wartete, bis alle anderen Erste-Klasse-Passagiere über die breite Gangway an Bord gegangen waren, dann straffte sie sich, nahm ihr Handköfferchen und schritt über die leicht ansteigende Gangway zum Haupteingang mittschiffs auf das B-Deck hinauf.
    Der Steward, der sie in Empfang nahm und freundlich begrüßte, wies ihr den Weg zu den Kabinen der ersten Klasse. Als sie sich in die angegebene Richtung wandte, erblickte sie einen elegant gekleideten Herrn von ungefähr 50 Jahren, der gerade ein paar Millionäre, die vor ihr das Schiff betreten hatten, mit Handschlag begrüßte.
    »Mr. Ismay«, hörte sie jemanden von den Passagieren in der Reihe vor ihr ehrfürchtig raunen. »Der Präsident der White Star.«
    Aus Phils Erzählungen war ihr bekannt, dass ein großer Teil der Erste-Klasse-Passagiere einem kleinen Zirkel aus Bankiers und Millionären, Aristokraten und Prominenten angehörte, die sich allesamt mehr oder weniger gut kannten, weil sie Geschäfte miteinander machten oder Partys miteinander feierten, und die Jungfernfahrt eines neuen Meeresgiganten war einer der gesellschaftlichen Höhepunkte des Jahres.
    Obwohl Gladys nicht zu diesem erlauchten Kreis der Passagiere gehörte, entging sie Ismays Begrüßung nicht. Als er sie erblickte, machte der Präsident einen schnellen Schritt auf sie zu und ergriff ihre Hand.
    »Darf ich mich vorstellen: Ismay, ich bin der
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