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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
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begannen sich zu drehen, und während sie gegen die Flut anfuhr, gewann sie zusehends an Geschwindigkeit. Sie fuhr an den Liegeplätzen anderer Schiffe vorbei, an Dampfern und Frachtern, die neben ihr winzig wirkten und im Fahrwasser wie Nussschalen zu schaukeln begannen. In einer Linkskurve bog sie in den River Itchen ein und zog an den Liegeplätzen von zwei längsseits in Tandemformation vertäuten Schiffen vorbei. Von achtern näherte sich die Titanic einem dieser weit kleineren Schiffe mit dem Namen New York, und Gladys sah, wie sich die Taue der New York zuerst lockerten und dann wieder strafften, um gleich darauf wie gespannte Gitarrensaiten zu zerreißen. Sie erschrak, als sie erkannte, dass die New York, plötzlich herrenlos, im Sog des Ozeanriesen in dessen Weg hineindriftete, als wollte sie am festen Schiffskörper zerschellen. Man hörte Stimmen, die angstvoll aufschrien, doch die von vielen Passagieren befürchtete Kollision blieb aus. Es gelang der Titanic gerade noch, den Frachter haarscharf hinter sich zu lassen. Um Haaresbreite hatte das kleine Schiff die Bordwand der Titanic verfehlt.
    Die Passagiere, die den Vorfall mitbekommen hatten, schüttelten verständnislos den Kopf. Es hatte nicht viel gefehlt, und die Titanic wäre ernsthaft beschädigt worden.
    »Wie schnell kann etwas passieren«, rief eine adrett wirkende Dame mittleren Alters, die neben Gladys an der Reling stand.
    »Fast wäre die Reise beendet worden, bevor sie überhaupt begonnen hat«, sagte ein anderer Passagier.
    »Das bedeutet Unheil, wir werden es erleben. Lieber eine Kollision im Hafen als auf hoher See.« Die Dame neben Gladys machte ein bedenkliches Gesicht.
    »Seien Sie nicht abergläubisch«, lachte Gladys. »Sie sind ja schlimmer als die Seeleute, die, was Aberglauben angeht, nicht zu übertreffen sind.«
    »Ich wollte das Schiff gar nicht nehmen, aber mein Mann redete solange auf mich ein, dass ich schließlich nachgab«, erwiderte die Dame. »Seither bin ich von einem Gefühl quälender Unruhe erfüllt, und es wird von Tag zu Tag schlimmer.«
    »Es ist die Aufregung des Reisens«, wandte Gladys ein; »wenn man selten reist, ist es ganz normal, dass man so fühlt. Lassen Sie uns erst einmal auf dem offenen Meer sein, dann werden Sie der Zuverlässigkeit dieses Dampfers vertrauen. Ist es nicht ein wunderschönes Schiff? Man fühlt sich doch hier wie auf festem Boden.«
    »Ja, schön ist das Schiff, das ist wahr! Aber ist es wirklich so sicher, wie behauptet wird? Das Schiff ist aus Stahl, also kann es auch untergehen. Und dann dieser Name! Wie kann man so vermessen sein und ein Schiff ›Titanic‹ nennen. Er ist so anmaßend; eine Herausforderung unbekannter Mächte, ach, hätte das Schiff doch wenigstens einen anderen Namen!«
    »Das nächste Schiff, das die White-Star-Line baut, soll Gigantic heißen«, sagte ein Mann, der hinter der Dame stand und ihr Gespräch offenbar mit angehört hatte. Er war ein kleiner, kräftig gebauter Mann mit einem pausbäckigen, ungestüm wirkenden Gesicht, dem der schwarze Schnauzer etwas Theatralisches verlieh. Bekleidet mit Knickerbockerhosen unterschied er sich in seiner ganzen Erscheinung auffällig, aber nicht unsympathisch von den anderen vornehm gekleideten Passagieren der ersten Klasse.
    »Oh, diese Menschen«, erwiderte die Dame und wandte sich zu dem Sprecher um, »sie fordern das Unglück regelrecht heraus.«
    Der Mann im Knickerbockeranzug lächelte zuerst Gladys, dann der anderen Dame zu und sagte:
    »Ich möchte ja niemanden beunruhigen, aber der Name des Schiffes, mit dem wir fahren, scheint mir nicht nur aus mythologischem, sondern auch aus literarischem Grunde nicht sonderlich glücklich gewählt.«
    Ein Wechsel in der Vibration zeigte, dass die Titanic Fahrt aufgenommen hatte. Der Zwischenfall mit der New York, der die Reise fast vorzeitig beendet hätte, schien schon vergessen. Die Titanic nahm Kurs in Richtung Normandie, wo sie in Cherbourg den nächsten Zwischenhalt auf ihrer Reise nach Amerika einlegen sollte.
    »Wie kann es einen literarischen Grund für einen falschen Namen geben?«, fragte die Dame neben Gladys interessiert.
    »Es hängt mit der mythologisch anmaßenden Bedeutung des Namens zusammen«, antwortete der Herr in Knickerbockern mit verschmitztem Lächeln. »Aber darf ich mich den Damen zuerst vorstellen. Mein Name ist Alfred Raubold. Reporter von den ›Hamburger Nachrichten‹.«
    Gladys stellte sich als Mrs. Appleton vor, und die adrett aussehende
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