Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dreizehnhundert Ratten

Dreizehnhundert Ratten

Titel: Dreizehnhundert Ratten
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
Dreizehnhundert Ratten
    In unserem Dorf gab es einen Mann, der bis zum Tod seiner Frau nie irgendein Haustier gehabt hatte. Ich schätze, Gerard Loomis war Mitte Fünfzig, als Marietta von ihm ging, aber beim Trauergottesdienst in der Kapelle wirkte er so niedergeschmettert und gebrochen, dass manche ihn für zehn, zwanzig Jahre älter hielten. Er saß zusammengesunken in der ersten Reihe, unordentlich gekleidet, hingestreckt von der Gewalt seines Schmerzes, als wäre er aus großer Höhe dorthin gestürzt wie ein Vogel, den irgendeine Katastrophe mitten im Flug sämtlicher Federn beraubt hatte. Nach der Beerdigung, als wir ihm kondoliert hatten und heimgegangen waren, begannen die Gerüchte. Es hieß, Gerard esse nicht mehr. Weder verlasse er das Haus, noch wechsle er die Kleider. Man habe gesehen, wie er in einer Mülltonne vor dem Haus Lackschuhe, Büstenhalter, Röcke, Haarteile, ja sogar die Nerzstola samt Kopf und Pfoten verbrannt habe, die seine verstorbene Frau voll Stolz an Weihnachten, Ostern und am Columbus Day getragen hatte.
    Man begann sich um ihn zu sorgen, und das war nur verständlich. Es gibt einen engen Zusammenhalt in unserer Gemeinde von etwa hundertzwanzig Seelen, verteilt auf zweiundfünfzig aus Stein und Holz gebauten Häusern, die der Industrielle B. P. Newhouse vor beinahe hundert Jahren gebaut hat, in der Hoffnung, eine Art utopischer Lebenswelt entstehen zu lassen. Wir sind keine Utopisten, jedenfalls nicht in dieser Generation, möchten aber doch meinen, dass unser Dorf, das inmitten von zweihundertfünfzig Hektar dichten Waldes und sechzig Kilometer von der Stadt entfernt am Ende einer durch und durch unauffälligen kleinen Landstraße liegt, einen Nachbarschaftssinn und eine Einheitlichkeit der Lebensgestaltung hervorgebracht hat, die man in einigen der neueren, von Einkaufszentren und Fabrikoutlets eingekreisten Siedlungen vergeblich suchen würde.
    Er sollte sich einen Hund anschaffen, sagten die Leute. Das klang sehr vernünftig. Meine Frau und ich haben zwei Shelties (sowie zwei Loris, deren Geplapper den ruhigen Hintergrund für unsere Abende am Kamin bildet, und einen sehr dicken Engelfisch, der das Aquarium auf dem Podest in meinem Arbeitszimmer ganz für sich allein hat). Eines Abends beim Essen sah meine Frau mich über den Rand ihrer Lesebrille hinweg an und sagte: »Ich habe in der Zeitung gelesen, dass dreiundneunzig Prozent aller Haustierbesitzer mindestens einmal am Tag von ihren Tieren zum Lächeln gebracht werden.« Die Shelties – Tim und Tim II – saßen unter dem Tisch und sahen mit fragendem Blick zu mir auf, während ich ihre begierigen, gewandten Mäuler mit kleinen Fleischstücken fütterte.
    »Findest du, ich sollte mal mit ihm reden?« sagte ich. »Mit Gerard, meine ich.«
    »Könnte nicht schaden«, sagte meine Frau. Und dann sanken ihre Mundwinkel in Richtung Kinn, und sie fügte hinzu: »Der arme Mann.«
    Am nächsten Tag – es war zufällig ein Samstag – besuchte ich ihn. Weil die Hunde Bewegung brauchten, nahm ich sie mit – wohl einerseits, um ein Beispiel zu geben, und andererseits, weil ich ihnen, wenn ich zu Hause bin und nicht wochen- oder gar monatelange Geschäftsreisen machen muss, so viel Aufmerksamkeit wie möglich widme. Gerards Haus lag etwa einen Kilometer von unserem entfernt, und ich genoss die Frische der Luft: Es war Anfang Dezember, die Weihnachtstage rückten näher, eine lebhafte Brise strich über meine Wangen. Ich ließ die Hunde frei vorauslaufen und bewunderte die Art, wie der Nadelwald, den B. P. Newhouse vor so langer Zeit hatte anlegen lassen, den Himmel rahmte und formte. Als ich auf Gerards Haustür zuging, war das erste, was mir auffiel, dass er das Laub im Vorgarten nicht zusammengerecht und die Büsche nicht gegen Frost geschützt hatte. Es gab noch andere Zeichen von Vernachlässigung: Die Winterfenster waren noch nicht eingehängt, aus den beiden Mülltonnen in der Einfahrt quoll Abfall, auf dem Hausdach lag wie die amputierte Hand eines Riesen ein vom letzten Sturm abgerissener Fichtenast. Ich läutete.
    Es dauerte lange, bis Gerard an die Tür kam. Er öffnete sie nur einen Spaltbreit und musterte mich, als wäre ich ein Fremder. (Und das war ich keineswegs – unsere Eltern waren miteinander befreundet gewesen, meine Frau und ich hatten jahrelang mit seiner Frau und ihm Bridge gespielt, und einmal waren wir gemeinsam nach Hyannis gefahren, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass wir einander im Sommer fast
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher