Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dreizehnhundert Ratten

Dreizehnhundert Ratten

Titel: Dreizehnhundert Ratten
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
hatte, über das große Plexiglasterrarium, in dem er so gern lag, gebreitet gewesen war, hatte er sich nicht viel bewegt, und so war sein Zustand schwer zu beurteilen. Gerard saß lange da, schürte das Feuer und sah zu, wie die Schlange die Muskeln streckte und die schwarze Gabel ihrer Zunge vorschnellen ließ, bis ihm schließlich ein Gedanke kam: Vielleicht war Siddhartha hungrig. Als Gerard den Mann in dem Tiergeschäft gefragt hatte, womit er den Python füttern sollte, hatte Bozeman gesagt: »Ratten.« Gerard musste wohl ein zweifelndes Gesicht gemacht haben, denn der Mann hatte hinzugefügt: »Ich meine, wenn er größer ist, können Sie ihm auch Kaninchen geben, und das erspart Ihnen dann Zeit und Mühe, weil Sie ihn nicht so oft zu füttern brauchen, aber Sie werden überrascht sein: Schlangen und Reptilien im allgemeinen sind viel effizienter als wir. Sie müssen den inneren Ofen nicht andauernd mit Filet Mignon und Eisbechern in Gang halten, und sie brauchen auch keine Kleider oder Pelzmäntel.« Er hielt inne und sah auf die Schlange, die unter der wärmenden Rotlichtlampe in ihrem Terrarium lag. »Ich hab ihm gestern eine Ratte gegeben, das heißt, dass er für ein, zwei Wochen genug hat. Wenn er Hunger hat, wird er es Ihnen schon zeigen.«
    »Wie?« hatte Gerard gefragt.
    Ein Schulterzucken. »Vielleicht mit einem leichten Farbwechsel – dann sieht das Muster irgendwie matt aus. Oder er macht, ich weiß nicht, einen irgendwie lethargischen Eindruck.«
    Beide betrachteten die Schlange. Ihre Augen waren wie zwei Steine, der Körper war kaum zu unterscheiden von dem Ast, auf dem er lag. Sie wirkte nicht belebter als die Glaswände des Terrariums, und Gerard fragte sich, wie irgend jemand, und sei es ein Experte, imstande sein sollte zu sagen, ob dieses Tier lebendig oder tot war. Dann stellte er den Scheck aus.
    Doch jetzt merkte er, dass ihm der Gedanke keine Ruhe ließ: Die Schlange musste gefüttert werden. Natürlich. Die letzte Fütterung war zwei Wochen her – warum hatte er nicht schon früher daran gedacht? Er vernachlässigte das Tier, und das war nicht recht. Er stand auf, schloss alle Türen und legte Holz nach, und dann ging er hinaus, schaufelte den Schnee aus der Einfahrt und fuhr über die lange, kurvenreiche Landstraße und dann auf der Schnellstraße nach Newhouse, wo das Einkaufszentrum war. Es war eine unangenehme Fahrt. Lastwagen warfen eimerweise Schneematsch auf die Windschutzscheibe, und das Hin und Her der Scheibenwischer irritierte ihn. Als er angekommen war, stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass der Strom hier nicht ausgefallen war: In dem Bemühen, alles irgendwie Weihnachtliche an den Mann zu bringen, leuchtete und strahlte das ganze Gebäude wie ein Casino in Las Vegas, und mit einem geschickten Manöver gelang es ihm, seinen Wagen in die Lücke zwischen einem zusammengeschobenen Schneehaufen und dem Behindertenparkplatz vor dem Tiergeschäft zu zwängen.
    Drinnen roch es nach Natur im Rohzustand. Zu seiner Begrüßung schienen alle Lebewesen in diesen vergitterten und verglasten Käfigen gleichzeitig geschissen zu haben, oder jedenfalls kam es ihm so vor. Das Geschäft war überheizt. Er war der einzige Kunde. Bozeman stand auf einem Schemel und reinigte mit einem Saugrüssel ein Aquarium. »Hallo, Mann«, sagte er in einem hohen Singsang. »Gerard, stimmt’s? Sagen Sie nichts.« Er hob mit einer geübten Geste die Hand zum Hinterkopf und strich über den Pferdeschwanz, als würde er eine Katze oder ein Frettchen streicheln. »Sie brauchen eine Ratte. Hab ich recht?«
    Gerard ertappte sich dabei, dass er herumdruckste, vielleicht weil die Frage so direkt und unverblümt gestellt worden war – oder verfügte Bozeman etwa mit einemmal über hellseherische Fähigkeiten? »Tja«, hörte er sich sagen, und er hätte vielleicht einen kleinen Witz gemacht, er hätte an dieser Transaktion vielleicht etwas Amüsantes oder wenigstens Eigenartiges finden können, doch er verkniff es sich, denn Marietta war tot, und er selbst war deprimiert, das rief er sich ins Gedächtnis. »Ja, da haben Sie wohl recht.«
    Die Ratte – Bozeman ging ins Hinterzimmer, um sie zu holen – war in einer Pappschachtel mit angeklebtem Henkel, wie man sie bekam, wenn man im Restaurant darum bat, die Reste für den Hund einzupacken. Das Tier war schwerer, als er gedacht hatte, und verlagerte sein Gewicht von einer Seite der Schachtel zur anderen, als er damit hinaus in den Schnee ging. Er stellte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher