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Dreizehnhundert Ratten

Dreizehnhundert Ratten

Titel: Dreizehnhundert Ratten
Autoren: T.C. Boyle
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die zarten nackten Füße, die wie Hände wirkten, sah die borstigen, farblosen Schnurrhaare und fühlte die Geschmeidigkeit des Schwanzes, der zwischen seinen Fingern lag wie eine Franse der Wildlederjacke, die er als Junge getragen hatte. Das Feuer brannte herunter, doch er stand nicht auf, um Holz nachzulegen. Als er sich schließlich erhob, um eine Dosensuppe zu wärmen, begleitete ihn die Ratte, die jetzt wach war und seine Schulter als ihren natürlichen Aussichtspunkt entdeckte. Er spürte ihr Fell wie eine Liebkosung an seinem Hals und dann die sachte Berührung der Schnurrhaare und der rastlosen Schnauze. Sie stand auf seinem Schoß, als er bei Kerzenlicht die Suppe aß, und reckte sich zur Tischkante, und er konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein Stück Kartoffel aus der goldgelben Brühe zu fischen und das eifrig knabbernde Mäulchen zu füttern. Und dann noch eins. Und noch eins. Als er zu Bett ging, begleitete ihn die Ratte, und wenn er in der Nacht erwachte – und das passierte zwei-, dreimal –, spürte er sie neben sich, ihren Lebensgeist, ihr Herz, ihre Wärme, und sie war kein Reptil, kein kaltes, undankbares Ding mit zuckender Zunge und toten Augen, sondern ein Wesen voller Leben.
    Als das Morgenlicht ins Schlafzimmer sickerte, war es sehr kalt im Haus. Er setzte sich im Bett auf und sah sich um. Die Anzeige des Digitalweckers auf dem Nachttisch war schwarz, also war der Strom wohl noch immer ausgefallen. Er wunderte sich kurz darüber, doch als er aufstand und die nackten Füße auf dem Boden aufsetzte, dachte er vor allem an die Ratte – und da war sie, in eine Falte der Decke gekuschelt. Sie öffnete die Augen, reckte und streckte sich, kroch bereitwillig in die dargebotene Hand und kletterte im Schlafanzugärmel seinen Arm hinauf, bis sie auf der Schulter saß. In der Küche zündete er alle vier Flammen des Gasherds an und schloss die Tür, damit die Wärme im Raum blieb. Erst als das Wasser im Kessel kochte, fiel ihm der Kamin ein – und das Terrarium mit der Schlange, das davor stand –, doch da war es bereits zu spät.
    Am nächsten Tag fuhr er erneut zum Tiergeschäft, denn er fand, er könne die Schlangengrube in ein Rattennest verwandeln. Oder nein, das klang nicht richtig, denn so hatte seine Mutter das Zimmer bezeichnet, das er als Junge gehabt hatte. Er würde es eine Rattenwohnung nennen, ein Rattenhotel, eine Ratten… Bozeman grinste, als er ihn sah. »Sie wollen nicht schon wieder eine Ratte, oder?« sagte er, und in seinem Blick war etwas Fragendes. »Will er etwa schon wieder eine? Nicht zu glauben. Obwohl … bei diesen Burmesen muss man aufpassen – die fressen immer, egal, ob sie Hunger haben oder nicht.«
    Selbst in bester Gemütsverfassung gehörte Gerard nicht zu den Menschen, die praktisch fremde Leute ins Vertrauen zogen. »Ja«, sagte er nur und beantwortete damit beide Fragen. Und dann fügte er hinzu: »Ich nehme am besten gleich ein paar.« Er wandte den Blick ab. »Wo ich schon mal da bin. Dann erspare ich mir den Weg.«
    Bozeman wischte sich die Hände an der khakifarbenen Schürze ab, die er über den Jeans trug, und kam hinter der Kasse hervor. »Klar«, sagte er, »gute Idee. Wie viele wollen Sie? Sie kosten sechs neunundneunzig das Stück.«
    Gerard zuckte die Schultern. Er dachte an die Ratte zu Hause, an ihre Geschmeidigkeit, er dachte daran, wie sie in kleinen Sätzen über den Teppich rannte oder wie von einem Wirbelwind getrieben an der Fußleiste entlangjagte, wie sie eine Nuss in den Pfoten hielt und sich aufsetzte, um daran zu nagen, wie sie mit allem spielte, was er ihr gab: einer Büroklammer, einem Radiergummi, dem Kronkorken einer Mineralwasserflasche. Einer plötzlichen Eingebung folgend beschloss er, sie Robbie zu nennen, nach seinem in Tulsa lebenden Bruder. Robbie. Robbie Ratte. Und wie jedes andere Wesen brauchte Robbie Gesellschaft, Spielkameraden. Bevor er genauer darüber nachdenken konnte, sagte er: »Zehn?«
    »Zehn? Mann, das wird aber eine fette Schlange.«
    »Sind das zu viele?«
    Bozeman strich über den Pferdeschwanz und musterte ihn mit einem langen Blick. »Aber nein – ich meine, wenn Sie wollen, verkaufe ich Ihnen alle, die ich habe, und alles andere ebenfalls. Wollen Sie Wüstenrennmäuse? Sittiche? Albino-Kröten? Das ist mein Ding: Ich verkaufe Tiere. Das hier ist ein Tiergeschäft, comprende ? Aber ich sage Ihnen: Wenn dieser Burmese nicht großen Hunger hat, werden Sie sehen, wie schnell diese Viecher sich
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