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Dreizehnhundert Ratten

Dreizehnhundert Ratten

Titel: Dreizehnhundert Ratten
Autoren: T.C. Boyle
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sie auf den Beifahrersitz, ließ den Motor an und schaltete das Heizgebläse ein, damit das Tier nicht fror – aber andererseits, dachte er, hatte es ja ein Fell und brauchte kein Heizgebläse, denn es konnte sich selbst warm halten. Auf alle Fälle war es bloß Futter oder würde es jedenfalls bald sein. Die Straßen waren glatt. Die Sicht betrug nur einige Meter. Er kroch den ganzen Rückweg nach Newhouse Gardens hinter einem Schneepflug her, und als er durch die Haustür trat, stellte er zufrieden fest, dass das Feuer noch brannte.
    Gut so. Er stellte die Schachtel ab, zog das Terrarium vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer und schob es neben den Kamin. Dann hob er die Schlange hoch – an der dem Feuer zugewandten Seite fühlte sie sich eindeutig warm an – und legte sie vorsichtig hinein. Für einen Augenblick erwachte sie zum Leben, die langen Muskeln spannten sich an, der große, flache, keilförmige Kopf wandte sich zu ihm, die steinernen Augen betrachteten ihn, und dann war sie wieder bewegungslos, ein Ding, das auf dem Plexiglasboden lag. Vorsichtig nahm Gerard die Schachtel – würde die Ratte herausspringen, ihn beißen und über die Bodendielen davonrennen, um für immer hinter der Fußleiste zu leben wie die Inkarnation einer Cartoonfigur? –, setzte sie dann mit klopfendem Herzen in das Terrarium und öffnete die Deckelklappe.
    Die Ratte – sie war weiß und hatte rote Augen wie die Laborratten, die er als Student in den Käfigen im Biologiegebäude gesehen hatte – glitt aus der Schachtel wie ein Stück Knorpel, setzte sich hin und begann sich zu putzen, als wäre es das Normalste von der Welt, in einer kleinen Pappschachtel herumgetragen und in einem von Glaswänden begrenzten Raum ausgesetzt zu werden, in Gesellschaft eines züngelnden Reptils. Das vielleicht hungrig war, vielleicht aber auch nicht.
    Lange passierte gar nichts. Schneeflocken tickten an die Fenster, das Feuer knisterte und brannte herunter. Und dann bewegte sich die Schlange ein ganz kleines bisschen. Es war nur eine geringfügige Verschiebung des glänzenden, geschuppten Schlauchs, eine Energie, die aus den tiefsten Tiefen der Muskulatur sickerte, und sofort erstarrte die Ratte. Mit einemmal spürte sie die Gefahr, in der sie schwebte. Sie schien in sich zusammenzusinken, als könnte sie sich dadurch irgendwie unsichtbar machen. Fasziniert sah Gerard zu und fragte sich, wie sie diese Bedrohung erkennen konnte – schließlich war sie in irgendeinem warmen Lagerhaus für Tiere aufgewachsen, wo sie, klein und rosig und inmitten einer wärmespendenden Schar von rosigen Geschwistern, an den Zitzen ihrer Mutter gesaugt hatte, Generationen von einem Leben in freier Wildbahn und dem unmittelbaren Wissen um die Existenz von Schlangen und ihren langen, glänzenden Körpern entfernt. Wie eine zum Leben erwachte Skulptur hob der Python ganz langsam und beinahe unmerklich den Kopf vom Plexiglasboden und drehte ihn zu der Ratte. Dann stieß er zu, so schnell, dass Gerard es um ein Haar gar nicht gesehen hätte, doch die Ratte war vorbereitet, als hätte sie ihr Leben lang für diesen Augenblick trainiert. Sie sprang mit einem einzigen verzweifelten Satz über den Kopf der Schlange und schoss zur entlegensten Ecke des Terrariums, wo sie eine Reihe vogelartiger Piepser ausstieß und die wie entzündet wirkenden roten Augen auf Gerards über ihr schwebendes weißes Gesicht richtete. Und wie fühlte er sich? Wie ein Gott, wie ein römischer Kaiser, dessen Daumen über Leben und Tod entschied. Die Ratte kratzte am Plexiglas. Die Schlange glitt auf sie zu.
    Und dann griff Gerard, weil er ein Gott war, in das Terrarium und hob die Ratte außer Reichweite des Pythons. Er war überrascht, wie warm sie war und wie schnell sie es sich in seiner Hand bequem machte. Sie strampelte nicht und versuchte nicht zu entkommen, sondern schmiegte sich an sein Handgelenk und den ausgeleierten Pulloverärmel, als verstünde sie, als wäre sie dankbar. Im nächsten Augenblick drückte er das Tier, dessen Herz bereits langsamer schlug, an die Brust. Er ließ sich auf das Sofa sinken und wusste nicht, was er als nächstes tun sollte. Die Ratte sah zu ihm auf, erbebte am ganzen Körper und schlief ein.
    Die Situation war, vorsichtig ausgedrückt, ungewohnt. Gerard hatte noch nie im Leben eine Ratte berührt, geschweige denn ihr Gelegenheit gegeben, sich in den Falten seines Pullovers zusammenzurollen und zu schlafen. Er betrachtete das Heben und Senken der winzigen Brust,
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