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Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Titel: Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Autoren: Andrea Fazioli
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Du musst jetzt stark sein
    Enzo starb vor dem Frühstück, beim Binden des Krawattenknotens. Der Kaffee war fertig, Sonia rief ihn zwei Mal, aber er gab keine Antwort. Sie fand ihn zusammengesackt vor dem Spiegel, in der Hand eine blaue Krawatte mit dünnen weißen Streifen. Normalerweise trank Enzo, sobald er angezogen war, stehend in der Küchentür einen Kaffee und verließ dann gleich das Haus.
    Sonia rief sofort den Notarzt und versuchte ihren Mann zu retten. Enzo war nicht bei Bewusstsein, er atmete nicht, hatte keinen Puls. Einen Defibrillator hatten sie nicht im Haus, aber Sonia war Krankenschwester und beherrschte die Technik der Reanimation. Bei Herzstillstand hängt alles von den ersten Minuten ab: stay and play , wie die Amerikaner sagen, jede verlorene Sekunde kann verhängnisvoll sein. Zwar ist die Statistik ermutigend, aber die Experten auf diesem Gebiet wissen, dass jeder Fall anders ist. Tatsächlich war Enzo schon tot, als der Notarzt kam.
    Später, als ein erster Verdacht in ihr keimte, fragte sich Sonia, ob Enzo wohl gespürt hatte, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er war schließlich Arzt und konnte sich kaum etwas vormachen. Aber seinen Körper vernachlässigte er sträflich – tat, als gäbe es die Bypässe nicht, nahm seine Tabletten nur widerwillig, arbeitete viel zu viel. Außerdem war da etwas, das ihm, wie Sonia bald herausfand, schwer auf dem Herzen lag.
    Das Schlimmste war der Anruf bei Natalia.
    »Was ist denn, Mama?«
    Eine leichte Ungeduld schwang in ihrem Tonfall mit. Wir haben doch erst gestern Abend telefoniert – wieso rufst du schon wieder an?
    Sonia brachte es nicht über sich, mit der Tür ins Haus zu fallen. »Bist du in Genf oder …«
    »Ich bin in Barbaras Wohnung. Warum?«
    Natalia war für eine Woche in die französische Schweiz gefahren, um sich die Universitäten von Genf und Lausanne anzusehen. Zwar hatte sie noch ein ganzes Schuljahr vor sich und genügend Zeit, um zu entscheiden, wie es nach der Matura weitergehen sollte, doch war sie ein vorausplanender Charakter und ließ die Dinge nicht gern einfach auf sich zukommen. Sonia zögerte.
    »Also weißt du, ich rufe an, weil … Es geht um Papa.«
    »Ist was mit ihm?«
    Natalias Ton hatte sich verändert. Sonia seufzte tief.
    »Er ist … Papa ist …«
    »Ist er verletzt? Tot?«
    Sonia nickte. Erst währenddessen wurde ihr klar, dass Natalia sie ja nicht sehen konnte. Sie schluckte trocken und sagte: »Du musst jetzt stark sein.«
    Warum flüchtet man sich in solche Gemeinplätze? Angesichts des Todes benimmt sich jeder wie ein Nebendarsteller in einem alten Melodram; das fiel ihr schon in den ersten Stunden auf. Karge Worte, in einem eindringlichen Tonfall gesprochen, als hätten sie eine tiefere Bedeutung. Gedrückte Hände, gesenkte Augen, unvollendete Sätze. Auch Sonia kam unwillkürlich den Erwartungen entgegen. Sie bedankte sich, versicherte, dass sie notfalls Hilfe annehmen werde, versprach Anrufe, die sie nicht machen würde.
    Du musst jetzt stark sein. Sie hatte mit solchen Floskeln angefangen. Wie kam sie nur auf die Idee? In den ersten Stunden war der Schmerz keine heranrollende Welle, sondern eine Reihe von Erschütterungen. Minutenlang ging sie gedankenlos irgendeiner Tätigkeit nach und erstarrte jäh mitten in der Bewegung, wie unter einem Schlag: Enzo ist tot. Enzo ist tot, und ich muss ein Bestattungsunternehmen anrufen. Eigentlich hätte ich allmählich Hunger, aber Enzo ist tot. Muss ich seine Verwandten anrufen? Enzo ist tot.
    Fünfundzwanzig Jahre waren sie verheiratet gewesen. Ein einziges Kind, eine Tochter, Natalia, im Dezember siebzehn geworden. Enzo Rocchi hatte mit seinem Kollegen Peter Mankell eine Gemeinschaftspraxis in Lugano. Sonia hatte als Krankenschwester gearbeitet, jetzt unterrichtete sie halbtags an der Schwesternschule. Viele Verwandte waren es nicht, die verständigt werden mussten: zwei Vettern in Bern und Enzos neunundachtzigjähriger Vater, der im Altersheim lebte. Sonia rief ihn nicht an, sondern fuhr hin, um ihm, in Anwesenheit eines Arztes, die Nachricht schonend beizubringen. Augusto Rocchi war geistig nicht mehr auf der Höhe, aber er begriff, was geschehen war. Er nahm es mit Würde auf, fast ohne ein Wort. Nur eine leichte Besorgnis schwang in seiner Stimme mit, als er Sonia fragte: »Und du? Und Natalia? Wie geht es euch?«
    Die Familie Rocchi wohnte am Hang, oberhalb von Lugano, am Ende der Via Al Roccolo in Massagno. Ein paar Stunden nach Enzos Tod wollte
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