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Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Titel: Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Autoren: Andrea Fazioli
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Bob Dylan, Knockin’ on Heaven’s Door . Dann dachte sie darüber nach, was sie selbst tragen würde. Und Natalia. An die Anzeige in den drei Tessiner Tageszeitungen. Unser lieber Enzo. Die Ehefrau Sonia. Die Tochter Natalia.
    Es waren aufreibende Tage. Der Schmerz überfiel sie unversehens, bei den alltäglichsten Verrichtungen. Oft ertappte sie sich dabei, wie sie Enzo etwas erzählen, einen Gedanken mit ihm teilen wollte. Sie wollte es sich nicht verbieten. Es war, als weigerte sich irgendetwas in ihr, sich dem Absurden zu fügen. Denn der Tod ist doch etwas Absurdes – das wurde ihr immer deutlicher bewusst, je näher die Beerdigung rückte.
    Hin und wieder flüchtete sie sich in Objekte. Es war eine gefährliche Verlockung: Wenn sie Enzos Sachen berührte, konnte sie sich minutenlang vorgaukeln, er sei noch da. Aber sie konnte nicht anders – sie musste seinen Kleiderschrank öffnen, sich an seinen Schreibtisch setzen. Die alten Fotos ansehen. Sie fand Postkarten, Briefe, die sie einander vor vielen Jahren geschrieben hatten. Und sie fand, in einer Ärztezeitschrift steckend, eine Notiz von seiner Hand, bei der ihr Corrado Bossis Bemerkung wieder einfiel. Es waren nur drei Zeilen, hastig hingeworfen.
    DRINGEND – aber wie dringend? Mit Corrado reden?Sonia erzählen? Bestätigung abwarten!Unbedingt morgen früh anrufen (mobil)
    Wen anrufen, fragte sich Sonia und legte den Zettel vor sich auf den Schreibtisch. Am Telefon hatte Corrado ja schon angedeutet, dass es um irgendeine juristische Angelegenheit ging. Was hatte Enzo auf dem Herzen gehabt? Sonia hob den Blick zu dem Foto, das gerahmt über dem Schreibtisch an der Wand hing. Skiferien im Engadin. Enzo mit Rucksack neben dem Gipfelkreuz des Monte Basso, oberhalb von Corvesco. Wozu an unerledigte Angelegenheiten denken? Warum saß sie noch hier? Enzo war tot, und sie musste sich um Natalia kümmern. Um das Haus. Jetzt war nicht die Zeit für Liegengebliebenes.

2
Der Geruch von Gras
    Natalia hatte das Bedürfnis zu laufen. Sie marschierte die Promenade des Bastions auf und ab. Alles war in Bewegung – das Laub der Kastanien und Eichen, das Gras der Wiesen, die Kinder auf den Schachplätzen mit den riesigen Spielfiguren. Genf schien im Urlaub; es war, als blinzelte die Stadt träge in die Sommersonne. Natalia hingegen lief mit weit aufgerissenen Augen, sie lief und blieb dabei doch wie erstarrt. Am Abend hatte sie es eilig gehabt und nicht mit ihrem Vater telefonieren wollen. Jetzt war ihr Vater nicht mehr da. Erstarrt auch er.
    Es ging ein leichter Wind. Wolkenfetzen zerfaserten am Himmel. Natalia bemühte sich, nicht zu lang in ihren Empfindungen, ihrem Gemütszustand zu verweilen. Wie wenn man die Hand einer Kerzenflamme nähert und sie ganz schnell zurückzieht, bevor sie die Haut ansengt. Aber die Flamme brennt, und wenn man es öfter probiert, zuckt die Hand irgendwann mal nicht schnell genug zurück.
    Vor der Mauer des Bollwerks setzte sie sich in die Wiese.
    Ringsum lagerten junge Leute im Gras, saßen im Schneidersitz oder hatten den Kopf an den Rucksack gelehnt. Manche lasen Zeitung, andere spielten Karten, wieder andere hörten über ihren iPod Musik. Am Ende der Grasfläche ragten, in die Mauer gemeißelt, vier Steinfiguren auf. Natalia musterte sie mit Abscheu. Vier mächtige steinerne Gestalten, von den Vögeln verunstaltet und ansonsten von niemandem beachtet. Sie waren wirklich erstarrt, diese Figuren, sie waren der Inbegriff der Erstarrung bis in alle Ewigkeit. Kein Blick für die bunten Klamotten, die Sonnenbrillen, die Schals.
    Aber auch Natalia hatte keinen Blick dafür. Eine Zeit lang versuchte sie es mit Musik, bekam aber rasch genug davon; sie kontrollierte die Zeit auf ihrem Mobiltelefon. Sie beschloss, einen späteren Zug zu nehmen. Sie war einfach noch nicht so weit. Sie musste nachdenken, bevor sie ihre Mutter wiedersah, ihr Zimmer, die Straßen von Lugano. Bevor sie nach Hause zurückkehrte. Immer näher kamen ihre Gedanken der Kerzenflamme – und sie spürte den sengenden Schmerz in dem Moment, als sie glaubte, sie habe die Hand noch rechtzeitig zurückgezogen. Sie kehrte den vier steinernen Männern den Rücken und verließ den Parc des Bastions.
    Barbara und Jenny hatten sich für halb zwölf auf der Place du Bourg-de-Four verabredet, und nachdem es nicht weit war, wollte sie zu ihnen stoßen. Vielleicht konnten die beiden sie überreden, nach Hause zu fahren.
    Natalia war vor ihnen da. Sie setzte sich an einen Tisch im
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