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Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Titel: Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Autoren: Andrea Fazioli
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Sonia nur allein sein, keine Kollegen sehen, keine Freundin. Das leere Haus war wie eine Zuflucht. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihr nie der Gedanke gekommen, wie wichtig Gegenstände sein können. Sie betrachtete die Sandalen ihres Mannes, seine Serviette, den Rasierschaum, einen Roman von Connelly, in dem auf Seite 46 ein Lesezeichen steckte. Jeder Gegenstand war wie ein Punkt, und wenn man sie alle miteinander verband – wie bei einem dieser Punktebilder aus der »Rätselwoche« –, kam Enzos Gestalt heraus, seine Gegenwart. Der Umriss seines Körpers im Sessel. Sein Mobiltelefon war noch ausgeschaltet: Niemand würde es je wieder einschalten, denn Sonia wusste die PIN nicht. Rufe ins Leere.
    Jetzt reicht es aber, ermahnte sie sich, nicht pathetisch werden. Sie zwang sich zur Aktivität. Sie trat auf den Balkon hinaus und erledigte die anstehenden Telefonate, eines nach dem anderen, ohne sich eine Pause zu gönnen.
    Es war ein schöner Junitag. Vom Balkon aus sah man bis hinunter zum See die Dächer von Lugano leuchten. Am Himmel zogen ein paar eilige Wolken herbei und wurden vom Wind gleich wieder vertrieben. Auf dem Wasser kreuzten sich die Bahnen der Motor- und Segelboote. Vor ein paar Jahren hatte sich Enzo zu einem Segelkurs eingeschrieben. Und ihn dann doch nicht angetreten, weil ihm die Zeit fehlte. Kurz darauf hatten die ersten Herzbeschwerden angefangen.
    Peter Mankell, Enzos Kollege, wollte Einzelheiten wissen. Mit der nackten Tatsache gibt ein Arzt sich nie zufrieden. Sein Herz hat zu schlagen aufgehört, dachte Sonia. Welche Rolle spielen da das Abendessen vom Vortag und die körperliche Aktivität und die eingenommenen Medikamente?
    »Seine Gesundheit war nie ein Thema für ihn.«
    »Ja, das ist wahr.« Sonia registrierte die Vergangenheitsform. Es braucht nicht viel, um einen Tod zu bestätigen. »Enzo war ein bisschen stur. Weißt du ja.«
    »Sag, soll ich vorbeikommen? Hättest du gern ein Beruhigungsmittel?«
    »Nein danke. Aber ihr, was macht ihr – wie geht es denn mit der Praxis weiter? Kann ich was helfen?«
    Peter lehnte dankend ab. Es sei jetzt nicht der richtige Augenblick, um an die Praxis zu denken. Sonia musste ihm beipflichten – sie wusste selbst nicht, weshalb sie überhaupt gefragt hatte. Vielleicht um irgendwas zu sagen oder um keine Verben in der Vergangenheitsform mehr benutzen zu müssen. Sie wollte sich nicht in der Vergangenheit verstecken, die imaginäre Linie, die ihr die von Enzo zurückgelassenen Gegenstände vorgaben, konnte sie nicht zeichnen. Die Zukunft verlangte zumindest konkrete Gesten. Bei Natalia sein, sich anziehen, essen, sich um die Beerdigung kümmern, allen danken, die halfen. Praktisches erledigen.
    Sie rief ihren Rechtsanwalt an, Advokat Bossi.
    »Sonia, ich bin wirklich … erschüttert. Wir haben uns gestern noch gesehen. Unvorstellbar.«
    Sonia sagte nichts.
    »Brauchst du was? Soll ich zu dir kommen?«
    »Danke, vielleicht später.«
    »Wir wollten in den nächsten Tagen mittags miteinander essen. Er hatte was zu besprechen, wollte meinen anwaltlichen Rat.«
    Jetzt gibt es nichts mehr zu besprechen, dachte Sonia in dem Moment. Die Worte des Advokaten beeindruckten sie wenig.
    »Bist du sicher, dass du allein sein willst? Natalia ist nicht da?«
    »Alles in Ordnung. Aber du könntest mir vielleicht wirklich helfen.«
    Sonia wusste nicht recht, was zu tun war. Ihre Eltern stammten aus der französischen Schweiz; als sie gestorben waren, hatte sich eine Großtante um alles Nötige gekümmert. Jetzt stand sie allein da. Wie verhält man sich, wenn jemand stirbt? Man muss es doch bekannt machen, oder? Ein Inserat aufgeben?
    »Mach dir jetzt darum keine Gedanken, Sonia.«
    Worüber soll ich mir denn sonst Gedanken machen?
    »Also wenn du mir dabei helfen könntest, Corrado, wäre ich …«
    »Aber selbstverständlich!«, rief Rechtsanwalt Bossi aus. »Gar keine Frage!«
    In den folgenden Tagen stellte Sonia fest, dass alles fast wie von selbst lief, wie eine effiziente Maschine. Die Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens kamen ihr vor wie die Butler aus englischen Romanen. Sie wussten genau, wann es etwas zu sagen gab und wann sie besser schwiegen, nie unterlief ihnen eine unangebrachte Geste oder ein unpassendes Husten. Sonia befasste sich mit den schmerzlicheren Details: der Aufbahrung der Leiche, den Kleidungsstücken, dem Sarg. Sie wählte den Blumenschmuck für den Trauergottesdienst in der Kirche, die Musik für die Zeremonie in der Aussegnungshalle.
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