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Dreizehnhundert Ratten

Dreizehnhundert Ratten

Titel: Dreizehnhundert Ratten
Autoren: T.C. Boyle
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Orientierung verlieren. Aber die Sache ist die: Der nächste Teil der Geschichte ist eine Art Roman, eine der Vorstellung entsprungene Rekonstruktion der Ereignisse, denn zwei Tage nachdem mir Gerards Python vorgestellt wurde – er wollte ihn entweder Robbie oder Siddhartha nennen –, fuhren meine Frau und ich in die Schweiz, wo ich Geschäftsbücher zu prüfen hatte, und kehrten erst vier Monate später zurück. Und in der Zwischenzeit passierte folgendes.
    In der Woche vor Weihnachten schneite es heftig, und beinahe zwei Tage lang gab es keinen Strom. Am ersten Morgen erwachte Gerard in einem ungewöhnlich kalten Haus, und sein erster Gedanke galt der Schlange. Der Mann in dem Tiergeschäft im Einkaufszentrum hatte ihm einen langen Vortrag gehalten. »Es sind tolle Haustiere«, hatte er gesagt. »Sie können sie im Haus herumkriechen lassen, und sie suchen sich dann ein Fleckchen, wo sie sich wohl fühlen. Und das Schöne ist, sie kommen dann und kuscheln sich zu Ihnen aufs Sofa oder wo Sie gerade sitzen, wegen Ihrer Körperwärme, verstehen Sie?« Dem Mann – er sah aus wie Mitte Vierzig, trug ein Namensschildchen, auf dem »Bozeman« stand, und hatte einen graumelierten Spitzbart und einen unregelmäßig gefärbten Pferdeschwanz – bereitete es offensichtlich Vergnügen, Ratschläge zu geben. Und das war auch gut so, denn er verlangte beinahe vierhundert Dollar für ein einziges Exemplar eines Reptils, das in seinem Heimatland vermutlich so gewöhnlich wie ein Regenwurm war. »Aber vor allem und besonders bei diesem Wetter müssen Sie ihn warm halten. Das ist schließlich ein tropisches Tier, verstehen Sie? Die Temperatur darf nie, niemals unter fünfundzwanzig Grad sinken.«
    Gerard wollte die Nachttischlampe anknipsen, doch sie funktionierte nicht. Dasselbe galt für das Licht im Flur. Draußen fiel der Schnee in Klumpen, als wäre er bereits irgendwo hoch oben in der Troposphäre zu Schneebällen geformt worden. Im Wohnzimmer zeigte der Thermostat siebzehn Grad an, und als er die Heizung einschaltete, tat sich nichts. Als nächstes knüllte er Zeitungspapier zusammen und schichtete Anmachholz in den Kamin. Wo waren seine Streichhölzer? Er durchsuchte rasch das Haus: Alles war ein einziges Durcheinander (und nun machte sich Mariettas Abwesenheit schmerzlich bemerkbar, tief in seinem Inneren, wie ein parasitäres Gebiss), die Schubladen waren voller Abfall, das schmutzige Geschirr türmte sich, nichts war dort, wo es hingehörte. Schließlich fand er ein altes Feuerzeug in der Tasche einer mit Farbe verschmierten Jeans, die ganz hinten auf dem Boden des Schranks lag, und zündete das Holz an. Dann machte er sich auf die Suche nach Siddhartha. Er entdeckte die Schlange zusammengerollt unter der Küchenspüle, wo der Warmwasseranschluss für den Wasserhahn und die Geschirrspülmaschine war, aber sie war praktisch leblos, so kalt und glatt wie ein Gartenschlauch, den man bei Frost draußen hat liegenlassen.
    Sie war auch erstaunlich schwer, besonders für ein Tier, das in den zwei Wochen, die es bislang im Haus verbracht hatte, nichts gefressen hatte, doch er zog sie, kalt und steif, wie sie war, aus ihrem Versteck und legte sie vor den Kamin. Während er in der Küche Kaffee kochte, sah er aus dem Fenster in das Schneetreiben, dachte an all die Jahre, in denen er bei solchem Wetter – bei jedem Wetter eigentlich – zur Arbeit gegangen war, und verspürte einen kleinen Stich der Nostalgie. Vielleicht sollte er wieder arbeiten – wenn schon nicht in seiner alten Position, von der er sich dankbar zur Ruhe gesetzt hatte, so doch auf einer Teilzeitbasis. Nur um nicht auf dem Abstellgleis zu stehen, um aus dem Haus zu kommen und etwas Nützliches zu tun. Aus einem Impuls heraus griff er zum Telefon und wollte Alex anrufen, seinen ehemaligen Boss, um zu hören, ob er was für ihn hätte, doch auch die Telefonleitung funktionierte nicht.
    Im Wohnzimmer ließ er sich mit seinem Becher Kaffee auf das Sofa sinken und sah zu, wie die Schlange langsam wieder zum Leben erwachte. Ein Muskelbeben durchlief den Körper in langsamen Wellen vom Kopf bis zum Schwanz, so dass es aussah, als striche ein leiser Wind über einen stillen Teich. Als er eine zweite Tasse Kaffee gemacht und sich auf dem Gasherd ein Spiegelei gebraten hatte, war die Krise – sofern es denn eine gewesen war – überstanden. Siddhartha schien es gutzugehen. Auch als die Heizung auf Hochtouren gelaufen und die Heizdecke, die Gerard für ihn gekauft
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