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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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Kapitel 1
     
    Diese Geschichte ist fiktiv. Genau wie der Ort, an dem sie spielt. Was eigentlich gelogen ist. Die Wahrheit ist, diese Geschichte hat sich genauso abgespielt. Wenn man davon absieht, dass niemand in der Lage ist, das Erlebte wahrheitsgetreu wiederzugeben.
     
    Im September 2011
     
    Meine Mutter rief mich an einem Mittwochvormittag in der Praxis an. Sie weiß, wie sehr ich das hasse. Auch, dass meine Helferinnen die strikte Anweisung haben, private Gespräche von mir abzuschirmen. Das Wissen hält meine Mutter nicht davon ab, es weiter zu versuchen. Immer wieder. Wahrscheinlich in dem Bewusstsein, jeder Anruf wird dokumentiert, mir vorgelegt, und in mir nagt das schlechte Gewissen. Bis ich sie zurückrufe.
    Ich rufe sie an. Einmal in der Woche am Sonntagvormittag. Und alles, was sie mir in der Zwischenzeit zu berichten hat, kann auf den Sonntag warten. Es sei denn, es geht um Leben und Tod.
    Genau den Code musste sie benutzt haben. Zum ersten Mal, und deshalb hatte er auch funktioniert. Nele stellte sie zwischen zwei Patienten zu mir durch.
    »Frau Dr. Meinberg, Ihre Mutter ist in der Leitung. Es ist dringend.« Neles Stimme klang eigenartig belegt und versetzte mich in Alarmbereitschaft. Unfall. Hausbrand. Krankenhaus. Meine Mutter ist selbst am Apparat, beruhigte ich mich. Sie lebt und ist ansprechbar. Unheilbare Krankheit, schoss es mir durch den Kopf. Sie hat gerade ein Karzinom diagnostiziert bekommen. Vor mein aufkommendes Mitgefühl schob sich die Angst um mein Leben und das meiner Kinder. Immerhin ist die Macht der Gene nicht zu unterschätzen.
    »Hallo, Mama«, begrüßte ich sie mit heiserer Stimme.
    »Michelle, das ist aber schön, dass ich dich sprechen kann«, sagte sie betont herzlich. Ihre Verkrampfung hinter der gespielten Leichtigkeit war nicht zu überhören.
    »Was ist passiert? Bist du verletzt?«
    Meine Mutter lachte. Dieses wohlklingende, kehlige Lachen, das meine Schwester Lena von ihr geerbt hatte.
    »Nein, um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
    »Um wen dann? Ist etwas mit den Kindern?«
    Während ich diese Frage stellte, erschien sie mir bereits als unsinnig. Hans würde niemals erst meine Mutter anrufen, wenn zu Hause etwas passiert wäre.
    »Nein, Michelle, es geht allen gut. Du bist das Sorgenkind.«
    Ich lauschte ihren Worten hinterher und begann langsam zu begreifen. Meine Mutter hatte sich das Telefonat erschlichen. Mit einer Lüge. Meine Sorge verwandelte sich schlagartig in Wut. Sie fühlte sich nach den Augenblicken der Verwirrung und Angst wie eine Befreiung an.
    »Mama, sag bitte, dass das nicht wahr ist. Du hast mich jetzt nicht einfach aus purer Langeweile angerufen?« Ich schrie sie hemmungslos an.
    »Natürlich rufe ich dich nicht aus Langeweile an«, antwortete sie so sanft, dass ich am liebsten den Hörer heftig hingeballert hätte, damit der Knall in ihrem Ohr schmerzte. Ich hielt mich zurück. Aber nur, weil ich ihr noch ein paar Takte sagen wollte. Meine erwachsene Hälfte war sich bewusst, dieser Energieeinsatz war vergebene Liebesmühe. Genauso gut konnte ich einen Monolog gegen die Wand führen. Meine Mutter war nicht zu kränken. Das war eine ihrer Eigenarten, die mich wahnsinnig machte. Sie wurde nie wirklich wütend und ließ sich auf kein anständiges Streitgespräch ein.
    »Mama! Hast du überhaupt den Ansatz einer Ahnung, wie konzentriert ich hier arbeiten muss? Stell dir vor, hier kommen kranke Menschen zu mir. Einer nach dem anderen, und jeder will mit einer Diagnose wieder nach Hause gehen. Wohlgemerkt mit der richtigen! Das ist Schwerstarbeit. Ich kann zwischendurch nicht einfach mal eine nette Plauderei über das Wetter führen. Meine Kinder und Hans halten sich an die Regelung. Du bist noch nicht senil. Also bitte, ich kann das auch von dir verlangen. Es muss um Leben und Tod gehen, wenn du mich während der Arbeit anrufst.«
    »Aber es geht um mehr als Leben und Tod. Michelle, es geht um dich. Bitte, wir müssen uns heute Nachmittag treffen. Es tut mir leid, dass ich dich während der Dienstzeit anrufe, aber zu Hause gehst du nicht ans Telefon. Sag jetzt nicht, du hast heute keine Zeit. Diese Entschuldigung hat bei dir einen Rapunzelzopf.«
    »Aber ich habe keine Zeit. Der freie Mittwochnachmittag ist randvoll mit Terminen.«
    »Ach, Michelle, warum überfrachtest du deine Tage dermaßen? Du rennst regelrecht durch dein Leben. Vergiss nicht, in einem ICE erkennt man die Landschaftsbilder nur noch verschwommen.«
    Ich stöhnte
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