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Hush Hotel

Hush Hotel

Titel: Hush Hotel
Autoren: Alison Kent
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1. KAPITEL
    F ür Shandi Fossey war alles möglich. Es gab keine Grenzen. Und genau das vermisste sie hier, den grenzenlosen Himmel, an dem die Sterne wie winzige weiße Lichter vor einem tiefen Tintenblau funkelten und sich die Wolken wie Zuckerwatte auftürmten. Sie vermisste den Himmel von Round-Up, Oklahoma, der bei Sonnenaufgang goldgelb und bei Sonnenuntergang knallorange glühte.
    Der Himmel über Manhattan bestand dagegen aus vielen kleinen Fetzen, die zwischen den Gebäuden hervorlugten, aus Straßenlaternen und glitzernden Neonfarben, die sich in den Fensterscheiben spiegelten. So kam es ihr zumindest vor, wenn sie, so wie jetzt, im Schneidersitz im Dunkeln vor dem Panoramafenster ihrer Wohnung im sechsten Stock saß. Es war halb vier morgens.
    Aber das war in Ordnung, das mit den Himmelsfetzen. Wirklich. Denn hier im “Big Apple” New York gab es andere Lichter, die viel heller und verheißungsvoller strahlten als die Lichter am Himmel über Oklahoma.
    Und genau deshalb war sie ja hier, oder etwa nicht? Wegen der Lichter auf dem Broadway und abseits des Broadways. Wegen der Theater und Kleinkunstbühnen, der Filmsets und Clubs. Wegen der unzähligen Möglichkeiten und Locations, an denen sie Arbeit finden könnte.
    Augenlider, Wimpern, Lippen. Augenbrauen und Wangenknochen. Die Krümmung einer Nase. Die Linie eines Kinns. Das waren die Landschaften, die sie gestaltete, die sie mit Farbe versah und neu erschuf. Mit ihren Pinseln und Schwämmchen, Tiegeln und Tuben voller Farben und Cremes verwandelte sie das Normale in etwas Fantastisches.
    Sie beugte sich nach links und dehnte ihren Oberkörper, indem sie ihren rechten Arm so weit wie möglich über den Kopf zum Boden führte. Ihre Arbeit in der Bar
Erotique
des Hotel Hush brachte es mit sich, dass sie an mindestens fünf Tagen in der Woche, oft auch an sechs, stundenlang auf den Beinen war.
    Daher hatte sie sich angewöhnt, nach der Arbeit unter ihrem Stück Himmel auszuspannen. Sie genoss die Stille, die Dunkelheit, das Gefühl, von tosendem Leben umgeben zu sein, obwohl es von hier oben völlig lautlos erschien.
    Sie dachte an die Gäste in den Kneipen der Stadt, die bis weit in die Nacht zusammensaßen und über die Vorstellungen diskutierten, die sie am Abend gesehen hatten. Sie stellte sich die Platzanweiserinnen, Hostessen und das übrige Personal vor, wie es darauf wartete, dass sich die Veranstaltungsorte leerten und sie endlich ihre Schuhe und ihr eingefrorenes Lächeln abstreifen konnten.
    Sie dachte an die Schauspieler, die vermutlich so schnell aus ihren Rollen schlüpften wie sie aus ihrer, wenn sie erst einmal hier oben saß. Dann ließ sie die Shandi hinter sich, die Martinis und Margaritas für die anspruchsvollen Gäste des
Erotique
mixte, und fand sich – widerwillig?, mit Bedauern?, ganz automatisch? – wieder in der Rolle, die sie ihr Leben lang gespielt hatte: das langbeinige, wilde Stutenfohlen aus Oklahoma.
    Diese Beschreibung verdankte sie der bier- und whiskydurstigen Menge in der “Durstigen Klapperschlange”, der Kneipe ihrer Eltern in der Kleinstadt Round-Up.
    Eines Tages würde sie wissen, welche der beiden Shandis sie wirklich war, ob sie sich zwischen den beiden entscheiden musste oder sie eine Kombination aus ihnen war. Es wäre ihr sicher viel leichter gefallen, sich darüber klar zu werden, hätte man ihr bei ihrem Abschied aus Oklahoma Mut gemacht. Stattdessen hatte man ihr prophezeit, sie würde nach spätestens sechs Monaten reumütig zurückkehren.
    Leider konnte sie die Zweifel aber auch nicht einfach abschütteln, die ihre Eltern in ihr geweckt hatten, als sie ihnen verkündet hatte, sie werde das Leben in Round-Up gegen ein Leben in New York City eintauschen.
    Seit einem Jahr studierte sie am Fashion Institute of Technology, um den Bachelor in Kosmetik und Duft-Marketing zu machen. Sie hatte sich ihr Studium durch Teilzeitjobs finanziert, zuletzt in der Rechtsanwaltskanzlei Winslow, Reynolds und Forster. Dann hatte sie von der Eröffnung eines neuen Hotels, des Hush, gehört, und dort die Stelle in der Bar ergattert.
    So war sie mit ihrem Status quo zufrieden, dem Studium, dem Job und ihrem Freundeskreis. Mehr brauchte sie nicht. Zumindest war sie bisher dieser Meinung.
    Und dann hatte
er
sich heute Abend an die Bar gesetzt.
    Sie kam wieder in die Ausgangsposition und dehnte jetzt ihre linke Seite. Ihre Fingerspitzen schwebten neben ihrer rechten Hüfte über dem Fußboden. Er war der süßeste Typ, den sie
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