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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
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so war er ganz unerwartet in der Lage, das Dach und das an ihm entlang führende eiserne Geländer zu erreichen und sich daran festzuhalten. Auf diese Weise robbte er ein Stück vor und lag dann bäuchlings auf dem Dach vor dem zweiten Schornstein. Das Kunststück, das er instinktiv vollbracht hatte, war ihm als geübtem Schwimmer, der schon häufig in der Meeresbrandung gestanden hatte, wohl vertraut.
    Als er in der Hoffnung, dass seine Gefährten ihm gefolgt wären, einen hastigen Blick zur Seite warf, sah er zu seinem Schrecken, dass die Welle, die ihn selbst auf das Dach getragen hatte, über all die Menschen, die eben noch mit ihm zusammengestanden hatten, hereingebrochen war, und diese verstreut oder mit sich fortgerissen hatte. Weder Gladys noch Carran noch die Mutter mit ihren kleinen Kindern waren zu sehen. Nur der Umstand, dass er sich selbst im rechten Moment an dem Eisengitter festklammern konnte, hatte ihn offenbar vor dem gleichen Schicksal bewahrt. Sich zu erheben, war ihm nicht möglich, denn er befand sich unversehens mitten in einem Wasserstrudel, der sich wie verrückt um sich selbst drehte, und während er versuchte, sich an dem Gitter festzuhalten, sank das Schiff immer tiefer. Hinab ging es auch mit ihm, immer weiter hinab, und dann befand er sich plötzlich unter Wasser.
    Er spürte einen starken Druck in seinen Ohren, aber dennoch hatte er die Orientierung nicht völlig verloren, sodass er merkte, in welche Richtung er schwimmen musste, um dem Sog des untergehenden Schiffes zu entkommen. Er war jetzt frei und schwamm mit ganzer Kraft, wobei er instinktiv versuchte, der Steuerbordseite des Schiffes zu entkommen. Jäh war ihm der Kessel in den Sinn gekommen, und der Gedanke an das kochende Wasser und den heißen Dampf, die die zu erwartende Explosion des Kessels freisetzen würde, trieb ihn zu verzweifelten Anstrengungen an, um den tödlichen Verbrühungen, die jeder Mensch in dessen Nähe erleiden würde, zu entkommen.
    An die Kälte verschwendete er keinen Gedanken und während er dem Todeskreis des untergehenden Giganten zu entkommen suchte, verspürte er keinerlei Kältegefühl. Dass er durch den Sog nicht in noch größere Tiefen hinabgezogen wurde, verhinderte nicht zuletzt die Rettungsweste, aber es war wohl vor allem die Tragkraft des Wassers, die durch die von dem sinkenden Schiff aufsteigende Luft erhöht wurde, die ihm half, dass er schneller und weiter unter Wasser schwimmen konnte, als er es früher jemals vollbracht hatte. Er hielt den Atem so lange an, bis er es kaum noch aushielt, aber genau in dem Augenblick, da er damit rechnete, aufgeben zu müssen, weil er den Atem nicht mehr länger anhalten konnte, schien er den kritischen Punkt überwunden zu haben. Der Gedanke, sein letztes Stündlein habe geschlagen, schoss ihm durch den Kopf. Während er noch immer unter der Oberfläche des Ozeans schwamm, betete er, dass sein Geist über ihn käme und ihn erlöste, aber von irgendwoher erhielt er gleichsam neue Atemluft und neue Stärke, als er an dem zunehmenden Licht bemerkte, dass er sich der Oberfläche näherte. Obwohl kein Tageslicht herrschte, bewirkte die sternenklare Nacht doch einen spürbaren Unterschied zu der unter Wasser herrschenden Dunkelheit.
    Als er auftauchte, berührte er etwas, und er sah, dass es sich um eine Holzplanke handelte, an die er sich sofort klammerte, und dann entdeckte er ein weiteres, größeres Holzteil, das Ähnlichkeit mit einer Kiste hatte. Er griff danach, um so das Hauptstück für ein Floß zu bekommen, von dem er sich vorstellte, dass er es aus dem aufgelesenen Treibgut zusammenbauen könne. Er blickte sich um und schaute in die Richtung, in der er die untergehende Titanic vermutete, und was er sah, ließ ihn seinen Augen nicht trauen.
    Im ersten Moment nahm er die Titanic nicht wahr, doch als er auf den Weihnachtskartenhimmel der glänzenden, funkelnden Sterne blickte, nahm er vor diesem Hintergrund den gigantischen schwarzen Rumpf des Schiffes wahr.
    Die Titanic stand genau senkrecht. Vom dritten Schornstein an ragte sie hoch in die Luft. Ihre drei noch tropfenden Schrauben blinkten selbst in der Dunkelheit, als wollten sie das Licht der funkelnden Sterne über ihr spiegeln.
    Raubold war ganz starr, während er zusah, wie sich das Schiff etwas bewegte und sich einige Grade weniger steil legte, als versuchte es, in seine frühere Lage zu gelangen. Dann aber begann die Titanic langsam zu sinken. Mit dem Bug voran glitt sie hinab und schien
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