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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
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dabei an Geschwindigkeit zu gewinnen. Als die See sich über dem Flaggenmast am Heck schloss, bewegte sie sich so schnell, dass ein leises Schlucken hörbar wurde.
    Die Titanic war vollständig und ohne irgendeine größere Welle zu verursachen unter der ruhigen Oberfläche des Ozeans verschwunden.
     
    *
     
    Als die schreckliche Szene vorüber war, sah Raubold nur noch einen hellgrauen, rauchigen Dampf, der über der Meeresfläche hing, die mit einer Menge von Trümmern und treibenden Wrackteilen übersät war, mit Tauen, Deckstühlen und Planken.
    Es ging etwas Übernatürliches von dem Anblick aus. Bilder aus Dantes Inferno und Virgils Höllenregionen stürzten auf ihn ein, als er um sich herum die fürchterlichen Laute vernahm, die sich zu Himmel erhoben. Es waren die ersterbenden Schreie aus über tausend Kehlen, das Stöhnen und Wehklagen der Leidenden, die letzten Atemzüge der Ertrinkenden.
    Hunderte von Schwimmern kämpften sich durch das Wasser, klammerten sich an Wrackteile und aneinander, an Kisten, Bretter, Korbstühle oder halbe Türen. Rau­bold nahm undeutlich wahr, dass jemand an seinen Kleidern zerrte, und dann fühlte er, wie der Arm eines Mannes von hinten seinen Hals umklammerte. Es gelang ihm, sich frei zu winden und zu schlagen, und Wasser spuckend ächzte er: »Lass mich los!«
    Aber der Mann griff wieder nach ihm, und erst durch einen kräftigen Tritt konnte sich Raubold von ihm befreien.
    Raubold brachte keuchend ein paar kräftige Schwimmzüge hinter sich, als er plötzlich eines der Flöße in erreichbarer Nähe vor sich erblickte, die offenbar beim Sinken des Schiffes flott geworden waren. Das Floß, das er erreichte, lag kieloben im Wasser. Auch andere Schwimmer umschwärmten den gebogenen weißen Kiel des Floßes. Mehrere Männer waren bereits auf das Boot geklettert, inzwischen lagen oder knieten mehr als ein Dutzend Männer auf dem Boden des Floßes, darunter erblickte der Reporter auch den zweiten Offizier Lightoller. Ein Mann im schwarzen Pelzmantel war gerade dabei, das Boot zu erklettern, er sah aus wie ein schwarzes zotteliges Tier. Mit einer Planke kam ein anderer Mann neben Raubold bei dem Floß an.
    »Los!«, rief dieser ihm zu. »Wir müssen da auch rauf!«
    Da sich ihm keine helfende Hand entgegenstreckte, ergriff der Schwimmer einfach den Arm eines Mannes, der schon auf dem Boot lag, und zog sich hinauf auf den Kiel. Danach half er Raubold, sodass es diesem auch gelang, das Floß zu erklimmen. Weitere Schwimmer landeten an und schließlich, als das Floß voll war, ächzte es unter der Last von ungefähr 30 Männern.
    Die Männer, die am Bug und am Heck kauerten, schlugen nun mit Brettern auf das Wasser ein, um von der Untergangsstelle wegzukommen, vor allem aber weg von den Schwimmern, die das Boot sonst zum Kentern gebracht hätten.
    »Schon gut, Jungs, bleibt vernünftig«, rief einer der Schwimmer zurück, als sie ihn aufforderten, nicht näher zu kommen. »Viel Glück! Gott segne euch!«, rief er und schwamm weg.
    Das Boot trieb mit Raubold und den anderen Männern hinaus in die einsame Nacht, weg von den Wrackteilen und den Schwimmern. Langsam entwich die unter dem Boot eingeschlossene Luft, und von Minute zu Minute sank es etwas tiefer ins Wasser. Gelegentlich spülte die See über den Kiel, und Raubold sagte sich, dass eine unbedachte Bewegung sie alle ins Wasser werfen könnte. Kühle, überlegte Führung war dringend nötig. Mit Erleichterung hörte er daher die volle, tief tönende Stimme des zweiten Offiziers Lightoller, und mit noch größerer Erleichterung nahm er es auf, als ein leicht bezechter Mann von der Besatzung rief: »Wir werden alle gehorchen, wenn der Offizier befiehlt.«
    Lightoller reagierte rasch. Auch er hatte erkannt, dass nur gemeinsames, organisiertes Handeln das Boot in der Balance halten konnte, und so ließ er nun alle 30 Mann aufstehen und sich in einer Doppelreihe mit dem Gesicht zum Bug aufstellen. Als das Boot sich schwerfällig nach einer Seite wälzte, rief er: »Nach rechts lehnen!«, und brachte so das Floß wieder ins Gleichgewicht. Ein anderes Mal hieß es: »Gerade stehen!« Er gab die Befehle, je nachdem, was im Moment nötig war, um der Dünung entgegenzuwirken.
    »Meint ihr nicht, dass wir vielleicht beten sollten?«, fragte einer der Matrosen.
    Alle stimmten zu. Man einigte sich auf das Vaterunser. Im Chor riefen sie es in die Nacht hinaus, mit dem Mann, der es vorgeschlagen hatte, als Vorbeter.
    Es war nicht der einzige
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