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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
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unterwegs.«
    Sie sah ihn zweifelnd an.
    »Es ist kein Schiff zu sehen«, sagte sie. »Die Titanic wird sich nicht mehr lange halten. Wie willst du die anderen Schiffe erreichen?«
    »Ich kann schwimmen.«
    »Ich auch.«
    »Gladys, Liebes, bitte, spring. Dein Platz ist nicht auf diesem Schiff.«
    »Kommen Sie, schöne Lady, wir legen jetzt ab«, rief der Heizer von unten.
    Gladys sah kurz zu dem Heizer, dann drehte sie sich ganz zu ihrem Geliebten herum und sah ihm in die Augen.
    »Du hast recht, mein Platz ist nicht auf dem Schiff – aber mein Platz ist bei dir.«
    »Gladys«, sagte er, »wenn du nicht in das Boot steigst, musst du vielleicht mit mir sterben.«
    Sie richtete den Blick an ihm vorbei in die schwarze See und in ruhiger Gelassenheit wieder hinüber zu dem Boot. Auch Officer Lightoller, dessen Augen denen des Heizers gefolgt waren, sah jetzt zu ihr hinauf, und sein Blick war eine einzige Einladung an sie, in das Boot zu kommen. Sie wandte sich ab.
    »Ich will mit dir sterben, Roger«, sagte sie und sah ihren Geliebten an.
    Carran sagte nichts mehr, sondern nahm Gladys noch fester in die Arme, presste sie so fest an sich, als ob er mit ihr verschmelzen wollte.
    Der Heizer sah es, zuckte mit den Achseln und wandte sich ab. Lightoller gab einen Befehl, und kurz darauf fierte das Boot hinunter in die See.
     
    *
     
    Als das Boot auf dem Wasser aufsetzte und die Besatzung zu den Rudern griff, war es Raubold klar, dass nun alle Boote herabgelassen worden waren und abgelegt hatten. Er sah einmal mehr zu der Außentreppe hinüber, die ihm Stufe für Stufe das Absinken des großen Schiffes anzeigte. Es war in diesem Moment klar auszumachen, dass die Titanic in Kürze untergehen würde.
    Eine merkwürdige Stille legte sich über das Schiff. Nachdem die Boote fort waren, hatten sich die Aufregung und das Durcheinander gelegt, und Hunderte, die zurückgeblieben waren, standen schweigend auf den oberen Decks der Titanic.
    Das Gefühl, das Raubold ergriff, als ihm in voller Klarheit zu Bewusstsein kam, dass alle Rettungsboote die Titanic verlassen hatten, war nicht angenehm, aber auch nicht so schrecklich, wie er es sich vorgestellt hatte. Keine Furcht hatte ihn ergriffen, sondern eher ein nüchternes Erkennen, dass er dem Tode nahe war und dass es vielleicht nur noch ein paar Minuten dauern würde, bis er seinem Schöpfer gegenüberstand. Er hatte sich nichts vorzuwerfen, sagte er sich, und er empfand keine Angst vor dem höchsten Gericht. Lieber Gott, sei meiner Seele gnädig, betete er; lass das Ende schnell kommen und erspare mir die Todesqual. Er hatte auch gar keine Zeit, sich zu fürchten. Seine Gedanken blieben darauf gerichtet, die im jeweiligen Moment gebotene Pflicht zu erfüllen, und er richtete sich auf und spannte die Muskeln entschlossen an, als er jemanden rufen hörte, dass es noch zwei zusammenklappbare Flöße gab, die auf dem Dach der Offiziersmesse befestigt waren. Vielleicht, dachte er, gab es doch noch eine Möglichkeit davonzukommen, bevor die Titanic im Meer versank.
    »Kommen Sie«, sagte er zu seinen beiden Freunden. »Wir müssen nach Steuerbord. Dort haben wir die besseren Chancen.«
    Das Schiff lag jetzt tief im Wasser. Das Vordeck war vollständig überspült, und die See kroch beständig zur Brücke hinauf. Sie war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Bisher war noch niemand ins Meer gesprungen. Da das Wasser aber nun die Brücke erreichte, eilten viele Passagiere nach achtern, um über die Reling zu klettern und hinunter zu springen. Raubold, Gladys und Carran bugsierten sich unterdessen zur Steuerbordseite, wo einige Matrosen die Davits herrichteten, um eines der Flöße vom Dach des Offiziersquartiers auf das Bootsdeck zu bekommen.
    Es bereitete der Mannschaft schreckliche Mühe, die Leinen zu kappen und das Floß aus der Vertäuung zu befreien. Kurbeln und Flaschenzüge, die dabei hätten helfen können, waren nicht vorhanden. Schließlich gelang es aber doch, das Boot loszumachen. Es wurde vom Dach gestoßen und schlug krachend auf dem Bootsdeck auf, wo es kieloben zu liegen kam. Sogleich hieß es, das Boot habe bei dem Aufprall sicher einen Schaden erlitten und würde im Wasser lecken. Trotzdem versuchten die Umstehenden, das Boot auf die richtige Seite zu drehen, aber obwohl es sehr viele Männer waren, die mit Hand anlegten, gelang es ihnen nicht.
    Es war Raubold klar, dass es noch einige Zeit und Mühe beanspruchen würde, das Boot ins Wasser zu bekommen, und angesichts
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