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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart
Autoren: Richard Kaemmerlings
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Einleitung
    Yes, we can: Große Bücher vom Hier und Heute
    Die Kunst will sich ungern etwas vorschreiben lassen. Das ist für die Literatur nicht anders. Wenn sich ein Kritiker hinstellt und sagt, dass ihm an den Romanen der Saison dieses oder jenes fehle, bestimmte Themen oder Formen, oder er des x-ten Debüts über ein traumatisches Kindheitserlebnis oder die gescheiterte große Liebe überdrüssig sei und er stattdessen doch gern mal einen Roman über wirkliche Probleme lesen möchte, ja vielleicht den großen, definitiven Roman zur Zeit, dann gilt der Kritiker als arrogant und ignorant, als jemand, der sich nicht auf die vorhandenen Kunstwerke einlassen will. So war es lange Zeit üblich, sich über die Forderung nach dem großen deutschen Wenderoman lustig zu machen – so als sei es unter der Würde des Schriftstellers, einen naheliegenden, sich für eine erzählerische Bearbeitung geradezu aufdrängenden Gegenstand zu wählen.
    Als ich 2008 ein Zuviel an privaten oder historischen Stoffen ausgemacht und in einer kleinen Polemik Wirtschaft, Politik, Technik und Militär als Stoffe der Gegenwartsliteratur eingefordert hatte, nahm mich ein nur unwesentlich älterer Kollege beiseite. Ich hätte natürlich vollkommen recht, und es sei überaus löblich, auf Defizite hinzuweisen, allein: Solche Forderungen kämen in regelmäßigen Abständen immer wieder auf und blieben natürlich ganz folgenlos. Viel Lärm um nichts also und reine Zeitverschwendung? Natürlich beißt man mit solchen öffentlich geäußerten Erwartungen an die Literatur auf Granit. Das muss auch so sein, denn Autoren können sich ja schon aus ihrem Selbstverständnis als autonome Schöpfernaturen heraus nicht von irgendwem vorgeben lassen, was sie zu tun und zu lassen haben. Vor allem die Forderung nach »Gegenwart«, im direkten und emphatischen Sinne verstanden als ein seismographisches Verhältnis der Literatur zu den sozialen, politischen oder technischen Entwicklungen ihrer Zeit, stößt sofort auf Widerspruch – von Kritikerkollegen und von Autoren. Und das obwohl doch an der Entwicklung der Gegenwartsliteratur in den letzten zwanzig Jahren eine mächtige und programmatische Bewegung hin zur eigenen Zeit und den Erfahrungen der Zeitgenossen ablesbar ist. Die Forderung nach aktuellen Stoffen erinnert die Literatur ja nur an ihren eigenen Anspruch, hinter den sie zuweilen zurückzufallen droht. Denn Gegenwärtigkeit ist ein strenger Maßstab, dessen Skala gleichwohl ständig im Fluss ist.
    Vor allem drei Argumente werden immer wieder gegen explizite Aktualität ins Feld geführt:
    Da wäre erstens das Wie-versus-was-Argument. Es lautet: Dem Stoff komme im Falle von echter Literatur doch gar keine Bedeutung zu. Viel wichtiger sei doch, wie etwas erzählt sei. Der große Künstler könne doch jeden Stoff zu Gold spinnen.
    Das zweite Argument lautet: Letztlich sei doch alles Gegenwart und Zeitdiagnose. Wenn ich von Humboldt oder Gauß erzähle, dann spiegele sich darin quasi automatisch auch das wissenschaftliche Weltbild der Gegenwart, so wie in Brechts Galilei-Drama auch anderes und Aktuelleres verhandelt wird als nur das Ringen zwischen Wissenschaft und Kirche in der frühen Neuzeit. Gegenargument: Behaupten kann das jeder, man müsste es aber im jeweiligen Einzelfall beweisen. Viele einst fundamentale Konflikte und brennende Probleme sind vielleicht rein historisch geworden. Und: Versteht man denn überhaupt das »wissenschaftliche Weltbild der Gegenwart« so einfach, beispielsweise in Sachen Teilchenphysik oder Hirnforschung? An Daniel Kehlmanns Bestseller »Die Vermessung der Welt« (2005) sieht man, dass ein historischer Stoff keineswegs automatisch mit einem Mehrwert für die Gegenwart ausgestattet ist. Womöglich erklärt sich sein Erfolg gerade durch das Fehlen eines Gegenwartsbezugs: Verlorengegangenes Bildungswissen, handwerklich gekonnt und mit den klassischen Mitteln der Gelehrtensatire unterhaltsam aufbereitet.
    Das Argument Nummer drei lautet, dass große Literatur per se zeitlos oder, Variante drei a, sogar immer und ausdrücklich der Vergangenheit verpflichtet sein solle. Dann kommt man mit Marcel Proust oder Claude Simon oder Uwe Tellkamp, um zu erläutern, warum Literatur, die sich der Gegenwart zuwenden will, immer zum Scheitern verurteilt und ihre edelste Aufgabe die Fixierung und Deutung der Vergangenheit ist, eine Arbeit, die eben einen zeitlichen Abstand voraussetzt. Einmal abgesehen davon, dass dies ebenfalls eine
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