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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
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der Vielzahl der Leute, die helfen wollten, sah er auch, dass nur für den kleineren Teil von ihnen Hoffnung bestand, mit ins Boot steigen zu können. Für die meisten Helfer würde es keinen Platz darin geben, da dieses sonst hoffnungslos überladen wäre und mit Gewissheit kentern würde. Dann entbrannte die Diskussion um das zweite Faltboot.
    »Gibt es Seeleute unter euch?«, rief einer der Offiziere vom Dach zur Mannschaft auf das Deck herab. »Wir müssen das andere Boot klarmachen!«
    Plötzlich war ein unheimliches Geräusch zu vernehmen, das alle bestürzte. Es war das Wasser, das inzwischen die Brücke erreicht hatte und vorn den Lukenschacht hochgurgelte. Die Mannschaft würde es nicht mehr schaffen, das erste Boot auf die richtige Seite zu drehen und über die Reling hinauszuschwenken.
    Das Schiff hatte eine deutliche Schlagseite nach Backbord bekommen, und diese Schlagseite nahm auf beängstigende Weise weiter zu, sodass Officer Lightoller, der eine tiefe, kräftige Stimme besaß, alle Passagiere nach Steuerbord rief. Schon entstand ein heilloses Geschiebe und Gedränge.
    »Es sind zu viele, die es nicht erwarten können, in das Boot zu steigen«, murmelte Carran, nachdem sie noch eine Weile den aussichtslosen Bemühungen der anderen zugesehen hatten, die Faltboote klarzubekommen. »Wir sollten von hier fort und uns auch zum Heck begeben. Vielleicht ist dort eher Rettung zu finden.«
    Raubold zögerte, aber Carran und Gladys marschierten bereits los, und so schloss er sich ihnen an.
    Sie waren nicht weit gekommen und hatten das Deck noch nicht überquert, da tauchte plötzlich eine große Menschenmenge vor ihnen auf, die von den Treppen auf das Bootsdeck quoll, darunter viele Frauen und Kinder.
    »Mein Gott, wo kommen plötzlich all diese Menschen jetzt her?«, rief Gladys entsetzt. »Ich dachte, die Frauen und Kinder seien längst in den Rettungsbooten.«
    »Vermutlich von den unteren Decks«, sagte Carran. »Es sind Passagiere der dritten Klasse.«
    »Hat man diese armen Menschen dort unten denn nicht geweckt?«, sagte Gladys. »Die Kollision mit dem Eisberg ist doch schon zwei Stunden her. Es ist unfassbar.«
    »Offenbar hat man sie gar nicht unterrichtet, was mit dem Schiff passiert ist«, sagte Carran.
    Raubold war sprachlos. Niemand schien es für nötig gehalten zu haben, diese armen Menschen zu benachrichtigen. Erst jetzt, als keine Rettungsboote mehr zur Verfügung standen, sahen die Leute, was geschehen war. Viele der Rettungsboote waren nur teilweise besetzt gewesen. Wie viele dieser armen Frauen, an deren Rockzipfel sich verängstigte Kinder klammerten, hätten noch Platz in den Booten gefunden!
    Sobald die Menschen das heranströmende Wasser sahen, machten sie kehrt und drängten nun ebenfalls in Richtung des Hecks. Aber sie kamen nicht weit. Das Eisengitter, das die erste von der zweiten Klasse trennte, versperrte ihnen den Weg. Sowohl Raubold als auch Gladys und Carran begriffen, dass sie nicht weiter vorankommen konnten und sich angesichts des hinter ihnen aus dem Deck heranströmenden Wassers in einer verzweifelten Situation befanden. Sie wären besser bei dem Floß geblieben.
    Raubold beobachtete eine Familie, eine Frau mit fünf kleinen Kindern, die sich angstvoll um die Mutter scharten.
    »Die armen Kinder«, sagte Gladys und trat auf eine Frau zu, um sie zu unterstützen. Die Frau schluchzte.
    »Warum weinst du, Mama«, fragte eines der Kinder.
    »Es ist nichts, mein Liebling, es wird alles gut, mein Kind.«
    Als Raubold zum Dach der Offiziersquartiere hinaufsah, bemerkte er dort oben einen Mann, der mit dem Bauch nach unten und herabbaumelnden Beinen auf dem Dach lag.
    »Wir müssen dort hinauf!«, rief Raubold und unternahm sofort einen Anlauf, das Dach im Sprung zu erreichen, doch sein Versuch schlug fehl. Behindert durch seinen Mantel, über dem er noch die Schwimmweste trug, war sein Sprung zu niedrig geraten.
    »Gladys, versuchen Sie es!«, rief er. »Sie schaffen es bestimmt.«
    Als er zur Seite blickte, sah er, dass Gladys eines der kleinen Kinder auf den Arm genommen hatte und es an sich presste.
    Raubold fühlte, wie ihn die Verzweiflung packte, und da er nicht mehr wusste, was er tun sollte, um sich und andere zu retten, unternahm er einen neuen Anlauf auf das Dach der Offiziersquartiere zu, und in diesem Moment traf ihn das Wasser. Das Wasser hatte die Gestalt einer Welle und trug ihn wie im Schwung empor, brachte ihn gerade dorthin, wohin er hatte aufspringen wollen, und
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