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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
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erreicht. Es war allerhöchste Zeit. Das Floß hielt sich nur noch mit knapper Not im Gleichgewicht, sodass die Bugwelle eines der Boote sie fast alle heruntergeworfen hätte. Die Matrosen im Boot mussten ihre ganze Geschicklichkeit aufwenden, um ihr Boot sicher längsseits zu manövrieren. Lightoller warnte die Männer, sich nicht zu drängen. Trotzdem rollte das Floß jedes Mal bösartig über, wenn einer der Männer sich vorbeugte, um in das Boot hinüberzuspringen.
    Das Umsteigen war eine nervenzermürbende Sache und dauerte, aber einer nach dem anderen schafften sie es. Manche der Männer krochen mit den Händen zuerst und zogen eingeklemmte Finger dem Risiko eines Sprunges vor. Bäcker Joughin, der immer noch hinter dem Floß Wasser trat, machte sich die wenigsten Sorgen und blieb seiner Unbekümmertheit treu. Er ließ einfach Maynards Hand los und paddelte seelenruhig zu einem Boot, wo sie ihn an Bord zogen. Sein Whisky isolierte ihn immer noch gründlich. Möglicherweise würde er sich nicht einmal an den Untergang erinnern, dachte Raubold, wenn er einschlief und später aus seinem Rausch erwachte.
    Lightoller verließ das umgestürzte Faltboot als Letzter. Als alle anderen in den Booten waren, sprang er selbst in eines der beiden Boote und übernahm sogleich das Kommando. Es war ungefähr halb sieben, als er von dem leeren Kiel abstieß und zu der Carpathia hinüberzurudern begann. Raubold begriff nur allmählich, dass er wirklich gerettet war. Er war froh darüber, aber Glücksgefühle stellten sich weder bei ihm noch bei den anderen Männern in den Booten ein.
    Eine halbe Stunde später machten sie längsseits an der Carpathia fest. Von oben starrten die bereits an Bord befindlichen Überlebenden zu ihnen herab und hielten Ausschau nach bekannten Gesichtern. Eine Strickleiter wurde heruntergelassen, und schließlich kletterte auch Raubold zum Deck der Carpathia hinauf. Als er oben ankam und die Planken betrat, wurde ihm eine heiße Decke um seine durchnässten, bebenden Schultern geworfen, und eilig brachte man ihn in den Speisesaal, wo er Cognac und Kaffee bekam.
    Vom ersten Augenblick an hielt auch Raubold Ausschau nach bekannten Gesichtern. Dr. Faussett und seine beiden Frauen gehörten zu den ersten geretteten Passagieren, die er schon im Speisesaal erblickte. Es war ihm nicht danach, ausgerechnet mit diesen Leuten zu sprechen, und daher zog er sich lieber in eine Ecke zurück.
    Auch die anderen Passagiere sprachen kaum miteinander, es herrschte Stille an Bord. Das Entsetzen hatte die Leute so gepackt, dass sie nicht miteinander sprechen mochten. Viele waren wie betäubt, als fühlten sie die Gegenwart von etwas, das zu groß war, um es zu begreifen. Es war nicht allein die Tragödie, die die Schiffsinsassen bedrückte, sondern das Schicksalhafte, das in dem furchtbaren Geschehen der vergangenen Nacht spürbar geworden war.
    Raubold wusste nicht, wer gerettet worden war und wie viele Passagiere die Boote aufgenommen hatten, aber je mehr Gesichter er sah, während er sich umschaute, umso größer wurde in seiner Erinnerung die Anzahl von Gesichtern, die er zu erkennen hoffte.
    Als er sich etwas erholt hatte und an Deck zurückkehrte, schien es, dass die meisten Boote der Titanic wohl geborgen waren. Aber einige Boote, dachte er, waren sicher noch auf See.
    Die Rettungsboote, die im Umkreis der Carpathia anlangten, wurden an Deck aufgebockt, und um halb neun an diesem Montagmorgen, als sie alle ihren Platz gefunden hatten, schickte die Carpathia sich an, zur Unglücksstelle zu dampfen. Es hieß, dass nach Passagieren Ausschau gehalten werden sollte, die sich an Wrackteile geklammert hatten.
    Das Schiff erreichte bald die Untergangsstelle und kreuzte eine Zeit lang durch das Unglücksgebiet. Erstaunlicherweise gab es an der Unglücksstelle nur sehr wenige Wrackteile zu sehen: hölzerne Deckstühle und andere kleinere Holzteile, aber nichts Größeres, bis auf die aufgegebenen Boote. Die See war mit einer großen Menge von rötlich-gelbem Seetang bedeckt, und Raubold hörte, wie ein Matrose meinte, es müsse sich um Kork handeln, mit denen die Schotten isoliert gewesen waren. Man fand zu aller Enttäuschung aber nichts, was die Hoffnung weckte, noch weitere Passagiere aufnehmen zu können.
    Während die Carpathia herumkreuzte, kam es Kapitän Rostron in den Sinn, dass ein Gottesdienst angemessen wäre. Er ließ einen Geistlichen der Episkopalkirche, Reverend Father Andersen, zu sich bitten, und die
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