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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben
Autoren: P Enquist
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(coda)
    In dieser isländischen Nacht im Dezember 1989 ganz klares Wetter. Man sieht die Sterne, aber kein Nordlicht.
    Wo ist es hin.
    Gegen vier Uhr am Nachmittag des 14. April 1998 geht er am stillgelegten Bahnhof von Skellefteå vorbei, geht langsam, um nicht aufzufallen, und sieht drei Männer auf der Treppe sitzen.
    Er erkennt ihn sofort. Es ist Jurma. Leichter Regen fällt.
    Es tut weh. Es dauert einige Sekunden, bis er begreift, warum. Wie immer beginnt er da, an etwas anderes zu denken, so überlebt man: Er ruft sich ein ähnliches Bild in Erinnerung, es stammt aus dem Film Philadelphia, oder vielleicht aus Bruce Springsteens Musikvideo zum Film. Dieser Springsteen geht auf einer Straße neben einer Fabrik, durch eine verwüstete Landschaft, ja, vielleicht ist es eine stillgelegte Fabrik, langsam und ohne sich umzusehen; man bekommt den Eindruck, dass die drei sitzenden Männer, die den Gehenden beobachten, seine Jugendfreunde waren, aber zurückgeblieben sind, während er weitergegangen ist.
    Sie hatten ihm nicht nachgerufen, stehen zu bleiben.
    Die Zurückbleibenden rufen den Gehenden ungern nach. Wie war es eigentlich, zurückzubleiben. Die drei Männer vor dem stillgelegten Bahnhof von Skellefteå teilten eine Flasche Wein, sicher nicht die erste. Jurma hatte den Kopf gehoben, als er ihn sah, wie in einer Geste des Wiedererkennens, dann aber den Blick gesenkt, wie vor Scham oder maßloser Wut.
    Das tat weh. Es war unbegreiflich, dass nicht er selbst dort saß. Schwer zu verstehen. Ein Zufall vielleicht, oder ein Wunder?
    Hat er Angst? Er hat Angst.
    Aus Brighton im Frühjahr 1989 fast nur der Titel von etwas, was jetzt beinah ganz sicher ein unmöglicher Roman ist, sowie eine kürzere Aufzeichnung.
    »Jetzt, bald, wird mein Wohltäter, Kapitän Nemo, mir befehlen, die Wassertanks zu öffnen, damit das Schiff, mit der Bibliothek darin, sinkt.
    Ich bin die Bibliothek durchgegangen, aber nicht alles. Früher träumte ich insgeheim davon, ich könnte einmal alles zusammenfügen, einen Schlussstrich ziehen unter alles. Um am Ende sagen zu können: so war es, so ging es zu, dies ist die ganze Geschichte.
    Doch das wäre wider besseres Wissen. Wider besseres Wissen ist anderseits eine gute Art, nicht aufzugeben. Wüssten wir es besser, gäben wir auf.«
    Am Tag darauf nahm er den Wagen und fuhr einige Stunden zwischen Skråmträsk, Långviken, Yttervik und Ragvaldsträsk umher, um sich zu fassen.
    Den Wagen, einen Audi, hatte er am Flugplatz Skellefteå gemietet, der ganz dicht neben Gammelstället am Bursjö angelegt worden war; in einem Waldgebiet, das seinem Onkel John gehört hatte, wie er glaubte. Man sank herab, um zu landen, und da lag der Hof, vielleicht hundertzwanzig Meter unter einem; dort hatte er der Großmutter aus der Bibel vorgelesen, als sie starb.
    Er hatte, wie immer während des Landeanflugs, aus dem Fenster geschaut und den geographischen Punkt identifiziert, von dem aus sein Leben betrachtet werden konnte, und der junge Mann auf dem Platz neben ihm, er war an die dreißig und im Cheviot-Anzug, also der Reisegefährte, hatte wie gewöhnlich den Kopf vorgestreckt und gesagt So sieht es jetzt also aus , und er hatte geantwortet Ja, sie haben umgebaut , als sei das ganz natürlich. Onkel John ist ja jetzt fort , hatte er erklärend hinzugefügt. Ach, er auch , hatte der Mann, der vielleicht noch nie geflogen war und Gammelstället noch nie von oben gesehen hatte, gesagt, Ja, es sind wohl nicht mehr viele da , und was sollte man dazu noch sagen.
    Der Mann auf der Bank vor dem Hauptbahnhof, dessen Name Jurma war, dürfte jetzt siebzig Jahre alt sein. Es war offensichtlich, dass er lange an der Flasche gehangen hatte.
    Komisch, dass er lebte. Genug davon.
    Er kann ein Ruderboot leihen und rudert hinaus zum Granholmen.
    Die Insel hat jetzt einen anderen Namen, nach der Mutter benannt: Sie heißt Majaholmen. Eigentlich merkwürdig, sein Vater hatte doch die Hütte gebaut. Da saß sie in den Sommern und blickte übers Wasser.
    Man sollte nicht so tief darin graben. Man wird ja nur verrückt.
    Von allen Vögeln liebte er die Libellen am meisten.
    Lange waren sie verschwunden. Im Herbst 1989 sah er sie wieder. Im Frühjahr 1990 flogen sie wie verrückt, und er konnte sich fast nicht beherrschen. Es war die Wiederauferstehung der Libellen, wie war das zugegangen!
    *
    Die Briefe.
    Er wollte den Dachboden leeren und fand die Briefmappen, sieben Stück, und alle Manuskripte. Er war ganz sicher
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