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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
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Morgendämmerung, der kältesten und dunkelsten aller Stunden, erschien ihm alles hoffnungslos. Der sternenfunkelnde Himmel verstärkte die Schwärze des Wassers noch und auch ihre Einsamkeit auf dem Meer.
     
    *
     
    Es war nur wenig später, auf dem tiefsten Punkt seiner Verzweiflung, als ein ferner Blitz über den Horizont fegte, gefolgt von einem sehr weit entfernten Donner.
    »Das war eine Kanone!«, rief Joughin hinter dem Floß.
    »Oder nur eine Sternschnuppe«, gab jemand zurück.
    »Schont eure Kräfte!«, rief Lightoller, »redet nicht so viel!«
    »Ah, seht ihr da hinten das Licht?«, setzte Joughin hinzu und deutete mit der Hand zum Horizont. »Da kommen wohl endlich unsere Retter«
    Joughin schien tatsächlich die Retter mitgebracht zu haben, denn in der Richtung, in die er gewiesen hatte, war tatsächlich ein einzelnes Licht zu sehen, dann erschien ein zweites, dann eine Reihe von Lichtern und noch eine und noch eine. Ein großer Dampfer näherte sich und schoss Raketen ab, um den Menschen von der Titanic mitzuteilen, dass Hilfe auf dem Wege zu ihnen war.
    »Lasst uns alle zu Gott beten«, sagte ein junger Mann, »denn da ist ein Schiff am Horizont und kommt auf uns zu.«
    »Das wird die Carpathia sein!«, rief Lightoller.
    Vereinzelt erhoben sich Freudenrufe, und die Männer auf dem Floß begannen wieder miteinander zu sprechen. Auch die Natur schien sich über die Lichter am Horizont zu freuen, denn das erste Licht des Morgens schoss in Streifen über den Horizont, die Sterne verschwanden allmählich, und die furchtbare Nacht wich einer Morgendämmerung aus zartem Lila und Korallenrot, und bald flammten rosarote und goldene Farbtöne über den Himmel.
    Der Anblick, der sich Raubold in der Morgendämmerung bot, war unbeschreiblich: ein rosiges Morgenrot, der Morgenstern und der Mond über dem Horizont. Das Wasser erstreckte sich in seiner ganzen Schönheit bis zum Horizont, und auf dem Meer ein Eisfeld von arktischen Ausmaßen, unzählige Eisberge überall, weiß oder rosa überhaucht und tödlich kalt, und mittendrin die Boote der Titanic. Kein Künstler könnte ein solches Bild erschaffen, denn selbst wenn er es kreierte, so läge es außerhalb der Vorstellungskraft seines Publikums.
    »Seht!«, rief einer der Männer. »Das Schiff ist da – dort! Seht ihr es auch?«
    Auch Raubold und die anderen blickten in Richtung des hell beleuchteten Schiffes. Sicher und zuverlässig lag es da, als warte es auf sie, ein weißes Schiff, fast so weiß wie die Eisberge, die sich aus dem Meer erhoben. Dennoch ließ der Anblick des Schiffes die Männer auf dem kieloben treibenden Floß nicht in Hurrarufe ausbrechen. Lightoller, Raubold und die anderen hatten genug damit zu tun, sich über Wasser zu halten. Noch waren sie nicht gerettet. Die Morgenbrise trieb heftige Wellen vor sich her, die über den Bootsrumpf spülten und ihn hin und her schaukelten. Bei jedem Rollen entwich etwas mehr Luft, und der Kiel sank noch tiefer ins Wasser. Immer noch schrie Lightoller seine Anweisungen, und immer noch verlagerten die Männer entsprechend ihr Gewicht, sie taten es schon seit über einer Stunde und waren todmüde. Das rettende Schiff lag noch Meilen entfernt, und die Männer auf dem Floß fragten sich, wie sie so lange aushalten sollten, bis man sie entdecken würde.
    Plötzlich aber, als das Tageslicht sich über dem Meer ausbreitete, sahen sie neue Hoffnung. Nur wenige hundert Meter entfernt waren mehrere Boote in Sicht gekommen, die zusammen fuhren und offenbar unter einem einheitlichen Kommando standen.
    »Schiff ahoi!«, brüllten die Männer, doch die Boote waren zu weit entfernt, und niemand hörte sie. Wieder war es Lightoller, der die rettende Idee hatte. Er kramte aus seiner Tasche eine Offizierspfeife hervor und ließ sie laut über das Meer schrillen. Der Pfiff trug nicht nur über das Wasser, sondern teilte den Matrosen in den Booten auch mit, dass ein Offizier sie rief. Nun hatte man sie im Licht des frühen Morgens erblickt. Zwei der Boote verließen die Reihe und ruderten auf sie zu. In diesem Augenblick rechnete Raubold wirklich damit, gerettet zu werden, und begann ein Dankgebet zu sprechen. Auch einige der anderen Männer beteten.
    Es ging sehr langsam, bis die Boote in ihrer Nähe waren, und als sie Rufweite erreicht hatten, trieb Lightoller sie weiter an:
    »Kommen Sie längsseits und nehmen Sie uns an Bord!«
    »Ay, Ay, Sir!«, rief jemand zurück, und schließlich hatten die beiden Boote die Männer
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