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Incarceron

Incarceron

Titel: Incarceron
Autoren: Catherine Fisher
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1
    Wer kann die endlosen Weiten Incarcerons erahnen?
Seine Gänge und Viadukte, seine Spalten?
Einzig der, der die Freiheit kennt,
kann seinen Kerker ermessen.
    LIEDER VON SAPPHIQUE
    Â 
    Â 
    M an hatte Finn zu Boden geworfen und an die steinernen Platten des Transitweges gekettet.
    Seine Arme waren weit ausgebreitet und von Metallgliedern niedergedrückt; wegen des immensen Gewichts konnte er seine Handgelenke kaum vom Boden heben. Seine Knöchel waren in übereinanderliegenden, an einem im Boden eingelassenen Ring befestigten Ketten verfangen. Er schaffte es nur mit Mühe, seinen Brustkorb weit genug zu dehnen, um Atem zu holen. Erschöpft lag er da, eine Wange auf das eisige Gestein gepresst.
    Und dann kamen die Civitates schließlich doch noch.
    Er fühlte sie, ehe er sie hören konnte. Das Beben des Bodens war zunächst kaum zu spüren, schwoll jedoch stetig an, bis die Erschütterungen in seinen Zähnen und Nerven einen Widerhall fanden. Dann durchschnitten Geräusche die Dunkelheit, das Rumpeln der Güterwaggons, das langsame, hohle Rattern der Radfelgen. Als er mühsam seinen Kopf auf die andere Seite drehte und sich das schmutzige Haar aus dem Gesicht schüttelte,
sah er, dass parallele Furchen im Boden geradewegs unter seinem Körper hindurch verliefen. Er war quer über die Schienen gekettet worden.
    Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn. Mit einem Handschuh umfasste er die eisüberzogenen Glieder seiner Fesseln, dehnte mit aller Macht seine Brust und schöpfte keuchend Atem. Die Luft war beißend und ölgeschwängert.
    Noch hatte es keinen Sinn zu schreien. Sie waren noch zu weit entfernt und würden ihn über den Lärm der Räder nicht hören, ehe sie nicht ein gutes Stück in den riesigen Gang hineingefahren wären. Er würde den richtigen Zeitpunkt genau abpassen müssen. Wartete er zu lange, wären die Waggons nicht mehr zu stoppen, sondern würden ihn zermalmen. Verzweifelt versuchte er, den nächsten Gedanken zu verdrängen. Nämlich den, dass sie ihn sehr wohl sehen und hören könnten, sich aber nicht darum scheren würden.
    Â 
    Lichter.
    Kleine, hin und her irrende Scheinwerfer, die von Händen gehalten wurden. Er konzentrierte sich und zählte neun, elf, zwölf; dann begann er noch einmal von vorn, um sich bei der Anzahl sicher zu sein und um gegen die Übelkeit anzukämpfen, die in seiner Kehle aufstieg.
    Um Trost zu finden, vergrub er sein Gesicht in seinem zerrissenen Ärmel, doch er konnte nicht aufhören, an Keiro zu denken, an dessen Grinsen und den letzten spöttischen Schlag, den er ihm versetzt hatte, als er das Schloss überprüfte, um dann in die Dunkelheit zurückzutreten. Er flüsterte den Namen, und seine Stimme war voller Bitterkeit: »Keiro.«
    Ausladende Gänge und unsichtbare Galerien verschluckten sein Wispern. Nebel hing in der metallisch riechenden Luft. Die Waggons klapperten und ächzten.

    Nun konnte er die Leute sehen, die neben ihnen trotteten. Sie lösten sich aus der Schwärze, und sie waren im Versuch, der Kälte zu trotzen, in derartig dicke Kleidung gehüllt, dass es schwer war zu sagen, ob es sich bei ihnen um Kinder oder vom Alter gebeugte Frauen handelte. Wahrscheinlich waren es eher junge Leute. Die Alten, wenn sie denn überhaupt noch welche bei sich hatten, würden wohl auf den Wagen bei den Waren mitfahren. Eine schwarz-weiße, zerschlissene Flagge war an dem ersten Waggon befestigt. Er konnte sehen, was sie zeigte: einen Wappenvogel mit einem silbernen Schloss in seinem Schnabel.
    Â»Halt!«, schrie er. »Seht runter! Nach hier unten!«
    Das Mahlen des Räderwerks ließ den Boden erzittern und ging ihm durch Mark und Bein. Er ballte die Hände zu Fäusten, als ihm das schiere Gewicht und die Schubkraft der Wagen bewusst wurden, als der Schweißgeruch von ganzen Reihen von Männern, die die Wagen vorwärtsbewegten, zu ihm wehte und er das Poltern und Rutschen der aufgetürmten Waren hörte.
    Er harrte aus und zwang das aufsteigende Entsetzen nieder, Sekunde für Sekunde. Seine Willensstärke stand gegen den sich nähernden Tod; er atmete nicht, ließ nicht zu, dass er die Nerven verlor, denn er war Finn, der Sternenseher, er konnte es schaffen. Bis sich mit einem Mal Panik ihren Weg bahnte und er sich auf die Unterarme stützte und schrie: »So hört mich doch! Anhalten! Anhalten
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