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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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war: nicht nur, um das große komplette Puzzlebild zu sehen, wie Nan es beschrieben hatte, sondern um einige der Teile ganz leicht zu verändern, damit ein anderes Bild entsteht, um Entscheidungsfreiheit wieder zu einem Teil des Hauptrahmens zu machen. So wie ich das sah, spielte Geld beim Erreichen dieses Ziels eine sehr große Rolle.
    Sagen wir, Sie haben Ihr ganzes Leben und bis in Ihren Tod hinein zutiefst bereut, dass Sie nie in eine Immobilie investiert haben, als die Preise kurzfristig im Keller waren und es damit selbst einer verkrachten Existenz wie Margot möglich gewesen wäre, einen Kredit aufzunehmen, einen riesigen Freizeitkomplex zu bauen und über Nacht zum Multimillionär zu avancieren. Wie würde es Ihnen damit gehen? Denn genau das ist ja passiert. Nur nicht Margot.

– 4 –
    DER LAUF DES SCHICKSALS
    Die Pflegeeltern, die Margot vom Krankenhaus abholten, waren erstaunlich propere Leute. Proper im Sinne von: weißes Hemd und Seidenkleid. Aber auch in jedem anderen Sinne.
    Ich kam sofort dahinter, dass die beiden vierzehn Jahre lang vergeblich versucht hatten, ein Kind zu bekommen. Der Mann, ein Rechtsanwalt namens Ben, schleppte sich mit tief in den Taschen vergrabenen Händen über den Flur. Das Leben hatte ihn gelehrt, das Schlimmste zu erwarten und sich vom Besten überraschen zu lassen. Kenne ich irgendwoher. Seine Frau – eine sehr kleine, sehr breite Person namens Una – trippelte neben ihm her. Sie hatte sich bei ihm untergehakt und rieb mit der freien Hand das goldene Kruzifix, das sie um den Hals trug. Beide sahen äußerst besorgt aus. Dr. Edwards hatte offenbar kein rosiges Bild von Margots Gesundheit gezeichnet.
    Man setzte mich in das Gitterbett, als sie kamen. Ich hatte meine Beine zwischen den kalten grünen Gitterstäben hindurchgesteckt und ließ sie baumeln. Margot lachte über die Grimassen, die ich schnitt. Schon da hatte sie so ein dreckiges Lachen. Ein Lachen, für das man den Kopf in den Nacken werfen muss. Ihre Haare waren durcheinander, dünn und blond – genau der Farbton, dem ich den Rest meines Lebens immer wieder mithilfe von Bleichmitteln nachjagte – und blaue, kugelrunde Augen, die einst grau werden würden. Zwei Zähnchen hatten sich ihren Weg durch das rosa Zahnfleisch gebahnt. Hin und wieder konnte ich ihre Eltern in ihr wiedererkennen: Sie hatte Micks kantigen Kiefer. Und den Schmollmund ihrer Mutter.
    Una, die Pflegemutter, schlug sich mit der Hand auf die Brust und schnappte nach Luft. »Sie ist wunderschön!« Sie wandte sich Dr. Edwards zu, der mit verschränkten Armen und Grabesmiene hinter ihnen stand. »Sie sieht so gesund aus!«
    Una und Ben sahen einander an. Ben ließ erleichtert die Schultern sinken, die er bisher vor lauter Anspannung fast bis zu den Ohren hochgezogen hatte. Sie fingen an zu lachen. Wie schön. Ich freue mich immer wieder, wenn ich das Rückgrat einer funktionierenden Ehe sehe. Und es verblüfft mich auch immer wieder. In Unas und Bens Fall war dieses Rückgrat ihr gemeinsames Lachen.
    Â»Würden Sie sie gerne mal halten?« Dr. Edwards nahm mir Margot vom Schoß. Ihr breites Grinsen verschwand, und sie fing an zu quengeln, aber ich hielt mir einen Finger vor die geschürzten Lippen und zog noch eine Grimasse. Sie kicherte.
    Una zirpte wahre Lobeshymnen auf das Kind, und endlich drehte Margot sich zu ihr um und lächelte sie über das ganze Gesicht an. Was weitere Begeisterungsausbrüche von Una auslöste. Zaghaft nahm Ben eine von Margots speckigen Händen in seine und machte ein paar glucksende Geräusche. Ich lachte, und Margot lachte auch.
    Dr. Edwards rieb sich übers Gesicht. Er hatte diese Szene schon so oft gesehen. Er hasste das, er hasste die Schuldgefühle, und darum schleuderte er den Leuten immer das Allerschlimmste entgegen, um jegliche Schuld von sich abzuwenden. Er sagte:
    Â»Sie wird ihren dritten Geburtstag nicht erleben.«
    Una sah man die Erschütterung deutlich an.
    Â»Warum?«
    Â»Ihr Herz entwickelt sich nicht, wie es sollte. Es versorgt die übrigen Organe nur unzureichend mit Blut. Irgendwann wird ihr Gehirn nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden. Und dann stirbt sie.« Er seufzte. »Ich möchte auf jeden Fall vermeiden, dass Sie mir hinterher Vorwürfe machen, ich hätte Sie nicht gewarnt.«
    Ben sah zu Boden und schüttelte den Kopf. Seine schlimmsten Ängste waren
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