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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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Prinzip nicht von ihrer Seite weichen durfte. Einzweimal dachte ich, ich könnte mir doch mal ein bisschen die Gegend ansehen, Sie wissen schon, auf Entdeckungstour gehen, einen Kurzurlaub in der Sonne einlegen. Aber ich schaffte es kaum, auch nur das Gebäude zu verlassen. Ich war an sie gebunden, und zwar nicht nur, weil sie ich war. Ich empfand ein Pflichtbewusstsein wie nie zuvor in meinem Leben – stärker gar als damals als Ehefrau und Mutter.
    Zweitens: Meine visuelle Wahrnehmung hatte sich verändert. Zuerst dachte ich, ich würde erblinden. Aber dann war auf einmal wieder alles so, wie es immer war: Ein Wasserkocher war ein Wasserkocher, ein Klavier war aus Holz und hatte weiße und schwarze Tasten usw.
    Immer häufiger jedoch sah ich die Welt wie durch eine Art außerirdische Effektbrille. Dr. Edwards war mal ein Cary-Grant-Doppelgänger, dann auf einmal eine neonfarbene Schaufensterpuppe, umgeben von psychedelischen Lichtstreifen, die aus seinem Herzen austraten und sich um seinen Kopf, seine Arme, seine Taille (sah aus wie Hula-Hoop-Reifen) und schließlich seine Fußgelenke wanden. Irgendwie wie Infrarot, aber doch tausend Mal seltsamer. Aber das war nicht die einzige Veränderung meiner visuellen Wahrnehmung: Manchmal sah ich parallele Zeitrahmen (hierzu gleich mehr), und manchmal hatte ich Röntgenaugen und konnte sehen, was im Zimmer nebenan vor sich ging. Ich sah Dinge wie durch eine riesige Lupe. Einmal sah ich Dr. Edwards’ Lungen, in denen sich dank seiner Leidenschaft für Zigarren dicke schwarze Teerklumpen befanden. Das Verrückteste war aber, als ich Schwester Harrison wenige Stunden nach der Empfängnis in den Bauch guckte und sah, wie der werdende Embryo einem deformierten Pingpongball gleich durch den Eileiter rollte, bis er endlich in den samtigen Tiefen der Gebärmutter landete und in sie hineinplumpste wie ein Stein in einen Teich. Ich war so fasziniert von diesem Schauspiel, dass ich Schwester Harrison bis auf den Krankenhausparkplatz folgte, von dem ich dann unsanft in das triste Krankenzimmer zurückgeschleudert wurde, in dem Margot laut schrie.
    Drittens, das Wichtigste von allem: Ich habe überhaupt kein Zeitgefühl. Ich folge keinem Rhythmus, habe keine Ahnung, wann Nacht oder wann Weihnachten ist. Es ist so: Ich sehe die Zeit zwar, aber eine Uhr hat für mich jede Bedeutung verloren. Versuchen Sie mal, es sich so vorzustellen: Wenn Sie Regen sehen, sehen Sie unzählige kleine, silbrige Wassertropfen, richtig? Manchmal in Form eines dicken Vorhangs, der über das Fenster läuft. Wenn ich Regen sehe, sehe ich Milliarden von Wasserstoffatomen, die sich an ihre Sauerstoffnachbarn klammern. Das sieht fast aus wie kleine weiße Teller, die auf einer Küchenarbeitsplatte um graue Knöpfe kreisen. Mit der Zeit ist es ähnlich.
    Für mich stellt Zeit sich als eine Galerie aus Atomen, Wurmlöchern und Lichtpartikeln dar. Ich gleite durch die Zeit, wie andere sich ein T-Shirt überstreifen oder auf den Aufzugknopf drücken und sich auf einmal im fünfundzwanzigsten Stock befinden. Ich sehe ständig und überall, wie sich parallele Zeitrahmen öffnen und Geschehnisse in der Vergangenheit oder Zukunft preisgeben, als handele es sich dabei um Dinge, die gerade an der nächsten Straßenecke vor sich gingen.
    Ich existiere nicht in der Zeit. Ich besuche sie nur.
    Natürlich bedeutet dies eine nicht ganz unbedeutende Hürde hinsichtlich meines Plans. Wenn ich keinerlei Einfluss auf die Zeit habe, wie soll ich dann, bitte schön, auf Margots Leben Einfluss nehmen und es ändern?
    Ich verbrachte meine gesamte Dienstzeit im Krankenhaus damit, darüber nachzudenken, wie ich auf Margot selbst Einfluss nehmen und ihre Persönlichkeit ändern könnte. Ich könnte ihr die richtigen Lösungen ihrer Klassenarbeiten zuflüstern, ich könnte sie anschreien, sie solle sich von stärkereichen Lebensmitteln und Zucker fernhalten, und ihr vielleicht ein natürliches Bedürfnis, sich sportlich zu betätigen, implantieren. Und dann könnte ich ihr den richtigen Umgang mit Geld vermitteln. Das war sowieso das Entscheidende. Warum? Glauben Sie mir, Armut bedeutet nicht nur Hunger. Armut bedeutet, dass eine Chance auf ein besseres Leben nach der anderen sich vor Ihren Augen in Luft auflöst.
    Ich sagte mir, vielleicht war das der Grund dafür, dass ich als mein eigener Schutzengel zurückgekehrt
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