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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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getrennt, weil der Papierkram stimmen musste. Ich habe die Richtung, in die sich mein Leben entwickelte, einem lückenlosen Protokoll zu verdanken. Oberinspektor Hinds schloss die Augen und massierte sich die Augenbrauen. Ich ging zu ihm hin und wollte ihm am liebsten ins Ohr schreien, wer ich war, dass Mick mein Vater war, dass er das Baby ins Krankenhaus bringen musste. Aber es nützte nichts. Und jetzt konnte ich auch sehen, was der Unterschied war zwischen Mick und Oberinspektor Hinds, was der Grund dafür war, dass ich zu dem einen durchdringen konnte und zu dem anderen nicht: Die Mick umgebende Hülle aus Gefühlen, Selbst und Erinnerungen hatte einen Riss bekommen, und zwar genau in dem Moment, in dem ich mit ihm redete. Und so, wie ein Windstoß kleine Steinchen in einem Mauerspalt bewegt und kurzfristig Regentropfen eindringen lässt, sodass die Nässe sich mit dem Stein verbindet, so war ich zu Mick durchgedrungen. Aber Oberinspektor Hinds war eine harte Nuss. Das begegnete mir immer wieder. Manche Menschen konnten mich hören, andere nicht. Meist war es reine Glückssache.
    Margot fing an zu schreien. Inspektor Hinds beschloss, die Chefkeule zu schwingen.
    Â»Okay«, bellte er die Polizisten an, die sich im Flur versammelt hatten. »Sie da.« Er zeigte auf den ersten Beamten zu seiner Rechten. »Sie bringen den Jungen zum Verhör auf die Wache. Und Sie da.« Er zeigte auf den nächsten Beamten zu seiner Rechten. »Sie rufen schnellstens einen Krankenwagen.« Die Polizistin sah ihn erwartungsvoll an. Er seufzte. »Oder besser gleich einen Leichenwagen.«
    Vor lauter Frust beschimpfte ich Inspektor Hinds und seine Leute und bettelte, sie mögen Mick nicht mitnehmen. Dann schrie ich vor lauter Verzweiflung darüber, dass mich keiner hören konnte und dass ich tot war. Und dann sah ich, wie sie Mick Handschellen anlegten und ihn für immer von Margot trennten. Gleichzeitig sah ich bereits in einer Art Parallelfilm über die Zukunft, den ich durch einen Riss in der Gegenwart flimmern sah, wie er am nächsten Morgen entlassen und von seinem Vater abgeholt wurde, und ich sah auch, wie Tage, Wochen und Monate vergingen, in denen Mick den Gedanken an Margot immer weiter verdrängte, bis sie weiter nichts mehr war als ein verlassenes Kind, das im Kinderkrankenhaus über eine Sonde ernährt wurde und ein Plastikarmband trug, auf dem sein Name stand: Baby X.
    In diesem Moment fasste ich einen Plan. Wenn es stimmte, was Nan gesagt hatte – wenn nichts endgültig war –, dann würde ich jetzt mein Leben von Grund auf ändern: meine Ausbildung, die Männer, für die ich mich entschied, den Sumpf der Armut, durch den ich bis jenseits der vierzig watete. Und die lebenslängliche Haftstrafe wegen Mordes, die mein Sohn zum Zeitpunkt meines Todes absaß. O ja, all das würde jetzt anders laufen.

– 3 –
    DIE AUSSERIRDISCHE EFFEKTBRILLE
    Insgesamt verbrachte ich dann etwa ein halbes Jahr auf der Kinderstation des Ulster Hospital – das weiß ich, weil Margot sich ohne Hilfe aufsetzen konnte, als sie entlassen wurde. Ich ging die langen Flure auf und ab und behielt die Türen im Auge, hinter denen Margot untersucht wurde, die kleine, gelbsüchtige Margot, in ihrem Brutkasten, umgeben von Schläuchen.
    Dr. Edwards, der für Margot zuständige pädiatrische Kardiologe, ging mehr als nur einmal davon aus, dass sie die Nacht nicht überleben würde. Und mehr als nur einmal steckte ich meine Hand durch die Löcher des Brutkastens, legte sie Margot links, über dem Herzen, auf die Brust und holte sie so zurück ins Leben.
    Ich muss gestehen, dass mir der Gedanke kam, sie einfach sterben zu lassen. Bei allem, was ich über Margots Kindheit wusste, war mir ja klar, dass die kommenden Jahre kein Zuckerschlecken werden würden. Aber dann erinnerte ich mich auch an die guten Zeiten. Daran, wie ich morgens mit Toby auf unserem baufälligen Balkon in New York Kaffee getrunken hatte. Daran, wie ich am Strand bei Sydney schlechte Lyrik verfasst hatte. Daran, wie ich mich dann endlich selbstständig gemacht hatte, indem ich K. P. Lanes unter Vertrag nahm. Und dann dachte ich: Okay, Kleines, wir halten durch. Wir überleben.
    Während dieser Zeit im Krankenhaus erkannte ich verschiedene Dinge.
    Erstens: Margot zu beobachten, zu beschützen, alles haarklein aufzuzeichnen und sie zu lieben bedeutete, dass ich im
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