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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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dem Tritt gegen seine Schulter. Keine Ahnung, warum das eben bei der jungen Mutter nicht funktioniert hat. Hätte ihr das Leben retten können.
    Ich half dem Jungen auf die Füße und flüsterte ihm dann ins Ohr, dass das Mädchen aus Wohnung 4 gestorben und ein Baby in der Wohnung sei. Langsam drehte er sich weg, dann schüttelte er den Kopf und wuschelte sich durchs Haar, als wolle er die Information abschütteln. Ich versuchte es noch einmal. Wohnung 4, du Vollidiot. Totes Mädchen. Baby. Braucht Hilfe. Jetzt. Er erstarrte. Ich hielt die Luft an. Er kann mich hören? Ich redete weiter. Ja, ja, genau, geh weiter. Plötzlich war er wie verwandelt. Als wären meine Worte bis in seine Blutkörperchen vorgedrungen und hätten dort seinen Instinkt geweckt.
    Er nahm die erste Treppenstufe, wobei er krampfhaft überlegte, was er eigentlich hier machte. Als er die letzten beiden Stufen erklomm, sah ich Neuronen und Gliazellen wie winzige Blitze um seinen Kopf herumsausen, etwas langsamer als üblich zwar aufgrund des Alkohols, aber dennoch durchwirkt von synaptischen Fusionen.
    Von dem Moment an überließ ich es seiner Neugier, die ihn in die Wohnung führen würde. Die schwarze Tür hatte ich sperrangelweit offen stehen lassen. Das Baby (das konnte nicht sein, oder? es konnte doch nicht wirklich ich sein?) weinte jetzt so erbarmungswürdig wie ein Katzenjunges, das ertränkt werden soll. Dieses Heulen suchte sich einen Weg direkt in Micks Gehör und machte ihn schlagartig nüchtern.
    Ich war dabei, als er versuchte, die Mutter zu reanimieren. Ich wollte ihn davon abhalten, aber er bestand darauf, eine gute halbe Stunde darauf zu verwenden, ihre Hände zu rubbeln und sie immer wieder laut anzusprechen, bevor er endlich auf die Idee kam, den Notarzt zu rufen. Dann dämmerte es mir. Die beiden waren ein Paar gewesen. Dieses Kind war sein Kind. Er war mein Vater.
    Dazu muss ich Ihnen kurz etwas erklären: Ich habe meine Eltern nie kennengelernt. Man hat mir erzählt, meine Eltern seien bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich noch ganz klein war, und dass die ganze Reihe von Pflegeeltern, in deren Obhut ich mich die ersten gut zehn Jahre meines Lebens befand, zwar verlauste Kriminelle verschiedenster Couleur gewesen seien, mich aber doch immerhin am Leben erhalten hätten. Wenn auch nur knapp.
    Ich hatte also keine Ahnung, was an diesem Punkt meines noch so jungen Lebens passieren würde, und dementsprechend keinerlei Plan, wie ich zu einer besseren Entwicklung der Dinge beitragen könnte. Wenn mein Vater doch lebte und gesund war, wieso bin ich dann da gelandet, wo ich gelandet bin?
    Ich setzte mich neben das Baby aufs Bett und beobachtete den jungen Mann dabei, wie er neben der Leiche der jungen Frau kauerte und schluchzte.
    Zweiter Versuch: Ich setzte mich neben mich aufs Bett und beobachtete meinen Vater dabei, wie er den Tod meiner Mutter beweinte.
    Hin und wieder stand er auf und schlug mit der
Faust auf etwas Zerbrechliches ein, kickte die Spritzen durchs Zimmer und leerte zornig die Schubladen der Kommode.
    Später erfuhr ich, dass sie sich vor wenigen Stunden gestritten hatten. Er war aus der Wohnung gestürmt und die Treppe hinuntergefallen. Sie hatte mit ihm Schluss gemacht. Aber es war nicht das erste Mal gewesen.
    Dann, endlich, kam die Polizei. Wer auch immer die gerufen hatte. Ein älterer Beamter nahm Mick beim Arm und führte ihn hinaus. Es handelte sich um Inspektor Hinds, dem am selben Morgen von seiner französischen Frau die Scheidungspapiere überreicht worden waren, in erster Linie aufgrund einer größeren Geldsumme, die er wegen eines Pferdes, das das letzte Hindernis riss, verloren hatte, sowie aufgrund des immer noch leeren Kinderzimmers. Inspektor Hinds hatte Mitleid mit Mick. Im Flur wurde darüber gestritten, ob man ihm Handschellen anlegen sollte oder nicht. Es sei doch völlig offensichtlich, dass das Mädchen drogenabhängig gewesen sei, herrschte Inspektor Hinds seine Kollegin an. Und sie sei ebenso offensichtlich bei der Geburt des Kindes gestorben. Die Kollegin bestand darauf, dass vorschriftsgemäß mit dem jungen Mann verfahren werde. Und die Vorschriften sahen Handschellen vor. Sowie ein mindestens einstündiges Verhör. Außerdem ein lückenloses Protokoll, mit dem man sich spätere disziplinarische Maßnahmen ersparen würde.
    Papierkram. Mein Vater und ich wurden
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