Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
Vom Netzwerk:
sondern aus Wasser.
    Die vielen Berichte über Begegnungen mit Engeln haben im Laufe der Geschichte das Bild eines fast vogelähnlichen Wesens erzeugt, das zwischen der sterblichen und der göttlichen Welt hin und her fliegen kann. In vereinzelten Berichten weichen die Beschreibungen der Flügel aber voneinander ab. So notierte ein Mann in Mexiko im sechzehnten Jahrhundert etwas von »dos ríos«, also »zwei Flüssen«, in sein Tagebuch, das seine Familie schleunigst verbrannte, kaum dass er das Zeitliche gesegnet hatte. Ein Mann in Serbien erzählte, bei dem Engel, der ihn besucht habe, hätten sich von den Schulterblättern aus zwei Wasserfälle über den Rücken ergossen. Und ein kleines Mädchen aus Nigeria malte reihenweise Bilder von einem wunderschönen himmlischen Boten, der statt Flügeln Bäche auf dem Rücken hatte, die in den Fluss mündeten, der ewig neben Gottes Thron fließt. Ihre Eltern waren sehr stolz auf ihre lebhafte Phantasie.
    Doch das kleine Mädchen war einfach nur gut informiert. Was es allerdings nicht wusste, war, dass diese beiden Flüssigkeitsstrahle, die vom sechsten Wirbel eines Engels zu seinem Kreuzbein fließen, eine nabelschnurähnliche Verbindung zwischen dem Engel und seinem Schützling bilden. In diesen »Wasserflügeln« findet ständig ein Transkriptionsprozess jedes Gedankens und jeder Handlung statt – als würde der Engel alles niederschreiben. Doch diese Art der Dokumentation ist noch viel besser als die durch Überwachungskameras oder Webcams. In der Flüssigkeit werden nicht nur Wörter und Bilder aufgezeichnet, sondern es wird das komplette Erlebnis darin gespeichert – das Gefühl, sich zum ersten Mal zu verlieben, zum Beispiel. Mit dem ganzen Geflecht aus Gerüchen, Erinnerungen und biochemischen Reaktionen darauf, als Kind verlassen worden zu sein. Und so weiter. Das Tagebuch eines Engels befindet sich in seinen Flügeln. Zusammen mit seinem Instinkt, seiner Eingebung und seinem Wissen über jedes Lebewesen. Wenn er denn bereit ist, zuzuhören.
    Dann musste ich mich an den Gedanken gewöhnen, mein eigenes Leben als schweigende Zuschauerin noch einmal zu durchleben.
    Um es geradeheraus zu sagen: Ich habe ein pralles Leben geführt. Aber kein gutes Leben. Sie können sich also vorstellen, wie erpicht ich darauf war, es noch einmal zu durchleben.
    Ich ging davon aus, dass es sich bei der ganzen Sache um eine Bestrafungsaktion handelte, um eine Art nur wenig verschleiertes Fegefeuer. Ich meine, wer sieht sich schon gerne selbst auf dem Bildschirm? Wer verzieht nicht das Gesicht, wenn er seine eigene Stimme auf dem Anrufbeantworter hört? Diese unguten Gefühle multiplizieren Sie jetzt bitte mal mit einer Quadrillion, und dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, wie es mir ging. Spiegel, Videokamera, Gipsabdruck – das ist alles gar nichts im Vergleich dazu, auf einmal neben sich selbst zu stehen und sich selbst dabei zuzusehen, wie man konsequent sein eigenes Leben versaut.
    Mir begegneten ständig andere Engel. Wir redeten nicht viel miteinander, nicht wie gute Kumpels oder Gefährten oder Schicksalsgenossen. Ich fand die meisten anderen Engel irgendwie düster und unnahbar, in meinen Augen waren das richtige Langweiler, die ihre Schützlinge so intensiv beobachteten, als würden diese sich an den Regenrinnen des Empire State Building entlanghangeln. Ich fühlte mich wieder wie damals in der Schule, als ich immer die Einzige war, die einen Rock trug, während alle anderen Mädchen Hosen anhatten. Oder wie damals als Teenager, als ich mir die Haare pink färbte – zwanzig Jahre, bevor es angesagt war. Ich kam mir vor wie Sisyphus: Ich war wieder genau da, wo ich immer gewesen war, und fragte mich gleichzeitig, wo genau das war, warum ich da war und wie ich von da wegkommen konnte.
    Sobald das Baby wieder atmete – sobald Margot wieder atmete –, stürzte ich aus der Wohnung und trat dem Betrunkenen, der immer noch zusammengerollt neben der Treppe lag, gegen die Schulter, um ihn zu wecken. Als er sich endlich zu mir umdrehte, sah ich, dass er viel jünger war, als ich erwartet hatte. Michael Allen Dwyer. Gerade einundzwanzig geworden. Studiert Chemie an der Queen’s University (oder auch nicht – mit den Noten wird er wohl keinen Abschluss schaffen). Hört auf den Namen Mick. All diese Informationen bekam ich mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher