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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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nächsten Absatz hoch. Vom Flur gingen fünf Türen ab, zwei zu jeder Seite und eine am Ende. Alle schwarz gestrichen. Das Geräusch – ein wirklich animalisches Stöhnen – war jetzt ganz in meiner Nähe. Ich machte noch einen Schritt. Ein Schrei. Ein Name. Eine Frauenstimme, ein Wimmern. Ich ging auf die Tür zu und blieb direkt davor stehen.
    Und dann war ich plötzlich drin. In einem Wohnzimmer. Es war kein Licht an und darum stockdunkel. Dann konnte ich ein Sofa ausmachen und einen alten, würfelförmigen Fernseher. Ein Fenster stand offen, der Vorhang flatterte abwechselnd gegen die Fensterbank und den Tisch, als wisse er nicht, ob er nun lieber rein oder raus wollte. Ein langer, markerschütternder Schrei. Das kann doch nicht sein, dass das außer mir keiner hört!, dachte ich. Warum hämmern die Nachbarn nicht längst gegen die Tür? Und dann begriff ich: Ich befand mich im Osten von Belfast, mitten in der Marschsaison. Alle waren unterwegs und tanzten zu The Sash.
    Draußen war es zu einem Tumult gekommen. Aus verschiedenen Richtungen näherten sich Polizeisirenen. Flaschen gingen zu Bruch. Rufe, Schritte auf dem Asphalt. Ich folgte den Schreien der Frau.
    Ich landete in einem Schlafzimmer, in dem eine flackernde Lampe auf dem Nachttisch schwaches Licht verbreitete. Lila Tapete löste sich von der einen, Stock- und Schimmelflecken zierten die andere Wand. Ein ungemachtes Bett. Eine blonde junge Frau in einem langen blauen T-Shirt, die neben dem Bett kniete wie zum Gebet. Sie keuchte. Ihre Arme so dünn wie Streichhölzer und mit blauen Flecken übersät, als habe sie sich geprügelt. Auf einmal richtete sie sich auf. Sie streckte das Gesicht mit zusammengekniffenen Augen der Zimmerdecke entgegen und biss die Zähne aufeinander. Da sah ich, dass sie hochschwanger war. Um ihre Füße und Knie hatte sich eine Pfütze roten Wassers gebildet.
    Das ist doch wohl nicht euer Ernst, dachte ich. Was soll ich denn jetzt bitte machen? Hebamme spielen? Den Notarzt rufen? Ich bin tot. Ich kann leider nichts anderes tun, als diesem armen Mädchen dabei zusehen, wie es mit Fäusten auf das Bett einschlägt.
    Dann ließen die Wehen einen Moment nach. Sie sackte in sich zusammen und lehnte die Stirn gegen das Bett. Ihre Augen waren völlig verdreht und halb geschlossen. Ich kniete mich neben sie und legte ihr äußerst zögerlich die Hand auf die Schulter. Keine Reaktion. Sie fing wieder an zu keuchen. Die nächste Wehe baute sich auf, immer weiter, bis die Ärmste sich erneut aufbäumte und eine ganze Minute lang schrie, dann ließ sie erleichtert nach und keuchte wieder.
    Ich legte die Hand auf ihren Unterarm und spürte mehrere kleine Löcher. Ich sah sie mir genauer an. Um ihren Ellbogen herum befand sich eine Ansammlung von zehn lila Kreisen, kleiner als Penny-Stücke. Einstichstellen. Die nächste Wehe. Sie richtete sich auf den Knien auf und holte tief Luft. Das T-Shirt rutschte ihr bis zu den Hüften hoch. Auf ihren dünnen, weißen Oberschenkeln befanden sich noch mehr Einstichstellen. Ich sah mich im Zimmer um. Teelöffel und Untertassen auf der Kommode. Unter dem Bett lugten zwei Spritzen hervor. Entweder war die Gute eine diabetische Teeliebhaberin oder ein Junkie.
    Die dunkle Pfütze um ihre Knie wurde immer größer. Ihre Augenlider zitterten, und ihr Stöhnen wurde immer leiser statt lauter. Sie war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Ihr Kopf hing unkontrolliert zur Seite, ihr Mund stand offen. »Hey«, sagte ich laut. Keine Reaktion. »Hey!« Nichts. Ich erhob mich und ging im Zimmer auf und ab. Der Körper des Mädchens fiel hin und wieder krampfartig nach vorne und von einer Seite zur anderen. Sie kniete teilnahmslos da, das blasse Gesicht mir zugewandt, die dünnen Arme schlaff zur Seite herunterhängend, die Hände auf dem schmutzigen, flohverseuchten Teppich aufliegend. Ich hatte mal einen Freund, der sich als Rettungssanitäter für Junkies selbstständig gemacht und sich damit eine goldene Nase verdient hat. Stundenlang konnte er bei uns auf dem Sofa sitzen und minutiös erzählen, wie er nun wieder diesen und jenen Promi im letzten Moment wiederbelebt habe. Mit dem langen Arm seiner Adrenalin-Spritze war er in die Hölle vorgedrungen und hatte die Berühmtheiten noch einmal aus des Teufels Feuer gerettet. Natürlich konnte ich mich nicht mehr genau
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