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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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bestimmt noch nicht mal 2500 Gramm. Die winzigen Hände, die sie zu Fäusten geballt vor die Brust gehalten hatte, öffneten sich wie welkende Blütenblätter. Ich neigte mich zu ihrem Mund herunter, presste meine Lippen um ihre und atmete kräftig aus. Einmal. Zweimal. Ihr Bäuchlein blähte sich auf wie eine Luftmatratze. Ich drückte ihr ein Ohr auf die Brust und klopfte ganz sachte. Nichts. Ich versuchte es noch mal. Einmal. Zweimal. Dreimal. Und dann meldete sich die berühmte Intuition. Der Instinkt. Eine Eingebung. Leg ihr die Hand aufs Herz.
    Ich legte mir die Kleine über den einen Arm und spreizte die andere Hand über ihre Brust. Und ganz langsam konnte ich zu meinem Erstaunen dieses kleine Herz spüren, als trüge ich es in meiner eigenen Brust. Es stotterte und stolperte und wollte nicht richtig funktionieren. Es sprotzte wie ein Motor, der nicht anspringen will, schlingerte wie ein Boot auf stürmischer See.
    Von meiner Hand ging plötzlich ein leichtes Licht aus. Ich musste zweimal hingucken. Tatsächlich: Im dämmrigen, orange gefärbten Licht dieses widerlichen Zimmers schimmerte es weiß zwischen meiner Hand und der Brust des Kindes.
    Ich konnte spüren, wie ihr Herz sich rührte, wie es wieder erwachen wollte. Ich schloss die Augen und dachte an alle guten Taten, die ich je in meinem Leben vollbracht hatte, und dann an alle schlechten Dinge, die ich getan hatte. Ich zwang mich, deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben, es war wie ein Gebet, eine schnelle Selbstprüfung, damit ich genau der Schutzengel sein konnte, den dieses Kind jetzt brauchte, damit ich der Rettung dieses Kindes würdig war – kraft jener ominösen Macht, die von mir Besitz ergriffen hatte.
    Das Licht wurde immer intensiver, bis es den ganzen Raum erhellte. Das kleine Herz stolperte wie ein Kalb, das auf unsicheren Beinen über die Weide stakst. Und dann klopfte es in meiner eigenen Brust. Es schlug so fest und kräftig und so laut, dass ich auflachte, und als ich wieder auf die Kleine blickte, hob und senkte sich ihre winzige Brust, auf und ab, auf und ab, ihre Lippen waren wieder rosa und bei jedem Ein- und Ausatmen durch den Mund geschürzt.
    Das Licht ließ allmählich nach. Ich wickelte das Kind in das Laken und legte es auf das Bett. Die Mutter lag in einer Blutlache, ihr blondes Haar war ganz rot, ihre weißen Wangen blutverschmiert. Ich wollte es noch einmal mit dem Hand-auf-Brust-Trick versuchen. Zwischen ihren Brüsten suchte ich nach ihrem Herzschlag. Nichts. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, wieder dieses Licht hervorzubringen. Nichts. Ihre Brust war kalt. Das Baby fing an zu wimmern. Es hat bestimmt Hunger, dachte ich. Ich hob das T-Shirt der Mutter an und hielt die Kleine eine Weile an ihre Brust. Mit geschlossenen Augen wandte sie sich der Brustwarze zu und trank und trank.
    Einige Minuten später packte ich die Kleine wieder aufs Bett. Schnell legte ich der Mutter meine Hand auf die Brust. Nichts. Komm schon!, schrie ich. Ich presste meine Lippen auf ihre und pustete Luft in sie, doch damit blähte ich nur kurz ihre schlaffen Wangen auf – dann entwich die Luft wieder. Ungenutzt. Überflüssig.
    Â»Lass sie«, hörte ich eine Stimme sagen.
    Ich wandte mich um. Am Fenster stand eine Frau. Noch eine Frau in Weiß. Von denen gab es hier wohl so einige.
    Â»Lass sie«, wiederholte sie etwas leiser. Sie sah der toten Frau auf dem Boden irgendwie ähnlich – sie hatte die gleichen hohen Augenbrauen, den gleichen kleinen Schmollmund. Vielleicht eine Verwandte, dachte ich, die sie mit nach Hause nehmen will.
    Der Engel hob die Frau vom Boden auf und trug den leblosen Körper auf die Tür zu – doch als ich wieder auf den Boden sah, lag er immer noch da. Der Engel sah mich an und lächelte. Dann sah er zum Baby. »Sie heißt Margot«, sagte er. »Pass gut auf sie auf.«
    Â»Aber …«, sagte ich. Dieses eine Wort barg ein Gewirr von Fragen.
    Als ich aufsah, war der andere Engel verschwunden.

– 2 –
    DER PLAN
    Als Allererstes musste ich mich an die Sache mit den Flügeln gewöhnen.
    Ich erfuhr, dass in der Kunst erst ab dem vierten Jahrhundert Engel mit Flügeln dargestellt wurden. Oder genauer gesagt mit langen, fließenden Gebilden, die aus den Schultern austreten und sich bis zu den Füßen ergießen.
    Diese Gebilde bestanden allerdings nicht aus Federn,
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