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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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was sie erlebt.«
    Â»Du meinst, all dessen, was ich erlebt habe?«
    Sie fuchtelte mit der Hand, als sei meine Zwischenbemerkung eine Sprechblase, die sie wegwischen könnte.
    Â»Du darfst das hier nicht mit einem Film vergleichen, den du dir ansiehst«, korrigierte sie. »Das Leben, an das du dich erinnerst, war nur ein winziges Teil des Puzzles. Jetzt wirst du das ganze Bild sehen. Und manche Teile musst du erst passend machen. Aber du musst vorsichtig sein. Und jetzt lass mich dir die anderen drei Regeln erklären.«
    Ich nickte entschuldigend. Sie machte einen tiefen, yogischen Atemzug.
    Â»Zweitens: Du musst sie beschützen. Es werden immer wieder Kräfte auftauchen, die versuchen werden, sich in die Entscheidungen, die sie trifft, einzumischen. Vor diesen Kräften musst du sie unbedingt schützen, das ist ganz wichtig.«
    Â»Kleinen Moment.« Ich hob die Hand. »Was genau meinst du mit ›einmischen‹? Ich habe doch bereits alle Entscheidungen getroffen. Genau darum bin ich ja hier gelandet …«
    Â»Hast du mir nicht zugehört?«
    Â»Doch, aber …«
    Â»Nichts ist endgültig, selbst dann nicht, wenn man in die Vergangenheit reist. Das kannst du jetzt noch nicht verstehen, aber …«
    Sie zögerte, als sei sie nicht sicher, ob ich helle genug sei, zu begreifen, was sie mir da sagte. Oder abgebrüht genug, um damit umgehen zu können.
    Â»Na, los, weiter«, sagte ich.
    Â»Selbst diese Szene, du und ich, hier und jetzt – das ist alles bereits passiert. Aber du bist nicht in der Vergangenheit, jedenfalls nicht so, wie du das Konzept der Vergangenheit aus deinem sterblichen Leben kennst. Zeit existiert nicht mehr. Du bist hier in einer Gegenwart, und deine Sicht der Zukunft ist noch verhangen. Du wirst sehr, sehr viele neue Dinge erleben, und du wirst dir über die Folgen gründlich Gedanken machen müssen.«
    Mir schwirrte der Kopf. »Wie auch immer. Wie lautet die dritte Regel?«
    Nan zeigte auf die Flüssigkeit, die mir aus dem Rücken quoll. Meine Flügel, wenn Sie so wollen.
    Â»Drittens: Du musst alles aufzeichnen, was passiert. Du musst sozusagen Tagebuch führen.«
    Â»Du willst, dass ich alles aufschreibe, was passiert?«
    Â»Nein, das geht viel einfacher. Wenn du dich an die ersten beiden Regeln hältst, musst du gar nichts tun. Deine Flügel tun das für dich.«
    Ich traute mich kaum, nach der vierten Regel zu fragen.
    Â»Viertens«, sagte sie und lächelte endlich wieder. »Du musst Margot lieben. Bedingungslos lieben.«
    Sie küsste ihre Fingerspitzen und drückte sie mir gegen die Stirn, dann schloss sie die Augen und murmelte ein Gebet in einer Sprache, die ich für Hindi hielt. Ich verlagerte mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und senkte betreten den Kopf. Dann war sie endlich fertig. Als sie die Augen öffnete, hatte sie keine dunklen Pupillen mehr, sondern hell leuchtende.
    Â»Ich werde dich wieder besuchen«, sagte sie. »Denk daran, du bist jetzt ein Engel. Du brauchst nichts zu fürchten.«
    Das aus ihren Augen strahlende weiße Licht breitete sich über ihr Gesicht aus, dann über ihren Hals und ihre Arme, bis Nandita in einer Lichtexplosion verschwand.
    Vom Ende des Korridors hörte ich ein Stöhnen. Sozialwohnungen. Nackte Mauerwände, hier und da Graffiti. Eine schmale, offen stehende Haustür zur Straße hin, daneben eine ganze Kolonne von Klingelknöpfen unter einem klebrigen Guinness-Belag. Neben der Treppe lag zusammengerollt ein Betrunkener.
    Nan war weg. Einen Moment lang blieb ich einfach so stehen und ließ die Umgebung auf mich wirken. Mein erster Impuls war, auf die Straße hinauszugehen und von hier das Weite zu suchen. Doch dann war der Drang, dem Ursprung jenes Stöhnens am Ende des Flurs nachzugehen, doch stärker. Wenn ich »Drang« sage, meine ich damit nicht Neugier oder Argwohn. Ich meine damit die berühmte Intuition, die eine Mutter dazu veranlasst, nach ihrem Kleinkind zu sehen, das schon eine Weile viel zu ruhig ist, und es dabei ertappt, wie es gerade die Katze der Familie in den Trockner stecken will. Ich meine damit jenes instinkthafte Bauchgefühl, das einem sagt: Du hast die Haustür nicht abgeschlossen. Du verlierst deinen Job. Du bist schwanger.
    Kennen Sie das?
    Also tappte ich den Flur entlang, drückte mich an dem Betrunkenen vorbei und ging die drei Stufen zum
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