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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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daran erinnern, was man machen muss. Ich bezweifle offen gestanden auch, dass dieser Freund jemals einem entbindenden Junkie das Leben gerettet hat. Und schon gar nicht, während er selbst tot war.
    Plötzlich rutschte das Mädchen vom Bett und blieb auf der Seite liegen. Ihre Arme hielt sie so eng beieinander, als trüge sie Handschellen. Da sah ich, dass nun Blut aus ihr herausfloss. Blitzschnell bückte ich mich und drückte ihr die Knie auseinander. Zwischen ihren Beinen unverkennbar der dunkle Haarschopf eines Babys. In diesem Moment spürte ich zum ersten Mal das Wasser, das mir in Rinnsalen kalt den Rücken herunterlief, wie zwei zusätzliche Sinnesorgane, die alles in diesem Zimmer wahrnahmen – den Geruch von Schweiß, Asche und Blut, die greifbare Traurigkeit, den Klang des immer langsamer werdenden Herzschlags der Gebärenden, den rasenden Herzschlag des Kindes …
    Entschlossen zog ich ihre Beine zu mir heran und stellte ihre Füße auf dem Boden auf. Ich zog ein Kissen vom Bett, zerrte das sauberste Laken von der Matratze und breitete es unter ihren Schenkeln auf dem Boden aus. Ich kauerte mich zwischen ihre Beine und hielt beide Hände auffangbereit an ihren Po. Jetzt bloß nicht zu viel nachdenken. Früher hätte ich in einer solchen Situation schleunigst die Flucht ergriffen. Ich atmete ungewöhnlich schnell, mir war schwindelig, aber gleichzeitig war ich unglaublich konzentriert und auf seltsame Weise entschlossen, das Leben dieses kleinen Wesens zu retten.
    Jetzt konnte ich seine Augenbrauen und die Nasenwurzel sehen. Ich richtete mich auf und drückte der Kreißenden auf den oberen Bauch. Ein Schwall Fruchtwasser durchnässte das Kissen unter ihrem Po. Und dann, flink wie ein Fisch, glitt das ganze Baby aus ihr heraus, so schnell, dass ich es auffangen musste – jenes nasse, dunkle Köpfchen, das zerknautschte Gesicht, den winzigen blauen, mit Käseschmiere bedeckten Körper. Ein Mädchen. Ich wickelte es in das Laken und hielt mit einer Hand die dicke blaue Nabelschnur. Ich wusste, dass ich in ein paar Minuten noch einmal daran ziehen musste, um den Mutterkuchen herauszuholen.
    Das Baby quäkte in meinem Arm, es schürzte die winzigen Lippen wie zu einem Schnabel, suchend. Gleich würde ich die Kleine ihrer Mutter anlegen. Aber vorher hatte ich Wichtigeres zu tun. Ich musste dafür sorgen, dass die geplagte Mutterseele in jenem geschundenen Körper blieb.
    Die Nabelschnur erschlaffte in meiner Hand. Ich zog einmal kurz und heftig daran. Ich konnte spüren, dass ein schwerer Sack am anderen Ende hing. Es war auf eine seltsame Weise wie Angeln. Ich zog noch einmal, dieses Mal ein bisschen schräg. Langsam, aber sicher zog ich die Plazenta heraus, bis sie als dicke, blutige Masse auf das Kissen plumpste. Zwanzig Jahre war es her, dass ich ein Kind geboren hatte. Was hatte die Hebamme dann gemacht? Die Schnur in der Nähe des Nabels abgeschnitten. Ich sah mich nach einem scharfen Gegenstand um. Und entdeckte auf der Kommode ein Springmesser. Das wird gehen. Aber Moment, da war noch etwas. Die Hebamme hatte sich die Nachgeburt ganz genau angesehen, sie uns dann gezeigt und erklärt, dass sie komplett herausgekommen sei und sich keine Reste davon mehr in mir befänden. An der Stelle hatte sich Toby über das nächstgelegene Waschbecken gehängt und sich sein Mittagessen noch einmal durch den Kopf gehen lassen.
    Die Plazenta, die jetzt vor mir lag, hatte nur wenig mit der prallen, roten, hirnähnlichen Masse zu tun, an die ich mich erinnerte. Diese Plazenta war klein und dünn, wie ein überfahrenes Tier. Es rann immer noch Blut aus der jungen Mutter. Ihre Atmung war flach, ihr Puls schwach. Ich musste jetzt schleunigst Hilfe holen.
    Ich stand auf und legte das Baby aufs Bett, doch als ich mir die Kleine ansah, war sie ganz blau. Venenblau. Ihr kleiner Mund suchte nicht mehr. Ihr süßes kleines Puppengesicht war kurz davor, einzuschlafen. Die über meinen Rücken fließenden, flügelähnlichen Wasserfälle fühlten sich an, als weinten sie, als würde jeder Einzelne ihrer Tropfen aus meinem tiefsten Innern fallen. Sie sagten mir, dass das Kind im Sterben lag.
    Ich riss es sofort an mich, raffte den Rock meines langen Kleides (weiß, genau wie Nans, anscheinend gibt es im Himmel nur einen Schneider) und wickelte ihn um den kleinen Körper. Die Kleine war entsetzlich dünn. Wog
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